Einer wenig bedeutenden, in ihren Einzelheiten wenig interessanten Excursion in der ersten, nördlichsten Parallelkette, welche ich dem bereits früher angeführten Principe zufolge als die Karwendelkette bezeichne, gebe ich in der Beschreibung den Vorzug vor andern Gipfeln dieses Kammes, welche in bergsteigerischer Hinsicht einen weit vornehmeren Rang behaupten; und was mich leitet bei dieser Wahl, ist der Wunsch, dass wenigstens mit einem der wenigen Spitzennamen im Quellen-Gebiete der Isar, die in weiteren Kreisen der alpinen Welt ausgesprochen zu werden das Glück haben, eine minder verworrene Vorstellung verbunden werde, als bisher. Wo steht der Karwendelspitz, wie hoch ist er? - Auf diese Frage wird man die verschiedenartigsten, unter sich im grössten Widerspruche stehenden Angaben erhalten; bald mag man erfahren, der Karwendelspitz erhebe sieh über Mittenwald, besitze eine Höhe von 7316', auf seinem Scheitel sei ein Kreuz, das sogenannte Dall'Armi-Kreuz, errichtet; bald heisst es, der Karwendelspitz befinde sieh im innersten Hintergrunde des Karwendelthales, an der Hochalpe, und seine Höhe, die bedeutendste im ganzen Karwendelkamme, behaupte noch vor den zackigen Wörnerspitzen den Vorrang. Soweit sind beide Angaben richtig und die Reymann'sche Karte verzeichnet auch (freilich in verschiedener Schreibweise, was gar keine Bedeutung hat) zwei Karwcndelspitzen; die Oesterr. G.-St.-K. dagegen gar keinen. Der doppelte Gebrauch des Namens, die verschiedenen Begriffe, die man damit verbindet, sind also zunächst darauf zurückzuführen, dass in der That zwei ganz verschiedene Berge mit dem gleichen Namen belegt werden, davon der eine, in den westlichen Theil der Kette, nahe ihrer südlichen Umbiegung, hinausgestellt , die [S. 421] Thalfläche von Mittenwald beherrscht und dort unter dem Namen Karwendelspitz exclusive bekannt ist, der andere, bedeutend höher als jener, über dem Pass-Sattel zwischen dem Karwendel- und dem Johannesthale sich erhebt, auf der Hoch-Alpe und im Karwendelthale als Karwendelspitz benannt wird, während umgekehrt man dort einen Karwendelspitz im Kirchelkar (der Umgebung des Mittenwalder Karwendelspitzes) nicht kennt. Aber auch damit sind die Widersprüche und Ungewissheiten noch lange nicht alle gelöst. Zunächst erhebt sich die Frage, ob der Karwendelspitz als Culminationspunkt der Karwendelkette, und in so naher Nachbarschaft der Wasserscheide zwischen beiden, längs ihres Südfusses verlaufenden Thälern zugleich auf dem Hauptgrate die Wasserscheide zwischen Isar und Riss bezeichne. Diese Frage ist zu verneinen, der Grosse Karwendelspitz gehört bereits vollständig, mit seinen beiderseitigen Karen, dem Quell - Gebiete des Karwendelbaches an. Das Bergmassiv des nächstöstliehen Gipfels in der Kette, des Grubenkarspitzes*) (Anm: Es sei wiederholt daran erinnert, dass hier ein anderer Grubenkarspitz als jener zwischen Rossloch und Grubenkar in Rede steht.) senkt mit seiner Westkante geradlinig zur Passhöhe sich herunter und reicht dem grossen, vom Birkkarspitze herabkommenden Zweigkamme die Hand. Die Hochalpe selbst liegt bekanntlich nicht auf der Passhöhe, sondern eine nicht unbeträchtliche Strecke unterhalb derselben, auf der Seite des Karwendelthales. Ein zweiter zweifelhafter Punkt liegt in der Stellung des Grossen Karwendelspitzes zur bayerisch-tirolischen Landesgrenze. Fast alle Karten verzeichnen an der Stelle, an welcher die von Norden nach Süden ziehende Grenze in scharfem Winkel plötzlich westwärts abbiegt, den Karwendelspitz; fast alle aber auch, und die bayerische Generalstabskarte ebenfalls, lassen diese Grenze über die Wechselschneid hinauf demjenigen Punkte des Hauptgrates zulaufen, an welchen die Wechselschneid zunächst sich anschliesst. An Ort und Stelle ist diess aber nicht der Karwendel-, sondern der durch seine breit-viereckige Gestalt auch weit draussen im flachen Lande noch auffallende Vogelkarspitz, und es ist daher nicht ungewöhnlich, eben diesen als den Karwendelspitz bezeichnen zu hören. Betrachtet man sich jedoch das grosse kartographische Werk der Grenzbeschreihung zwischen Bayern und Tirol, so wird der Irrthum alsbald klar: man hat es hier wieder mit einem Falle unnatürlicher Grenzziehung zu thun, wahrscheinlich einer althergebrachten Ueberlieferung, welche [S. 422] eben solch' einzelne Gipfel als Hauptgrenztpunkte festhielt, zu Liebe, wie solche ja auch häufig anderwärts, im Allgäu z. B. am Hochvogel und am Hohen Ifen sich vorfindet. Die Grenzlinie; welche aus der Schlucht des Fermersbaches herauf östlich zum Rappenkopfe der Wechselschneid emporsteigt und hierauf diesen letztgenannten Bergrücken verfolgt, springt, dem Hauptkamme bereits ganz nahe gekommen, vom Steinkarspitze ostwärts ab, stürzt in einen Trümmerkessel hinunter und klettert jenseits an den Nordwänden des Karwendelspitzes hinan nach dessen Gipfel. Von dort ab verfolgt sie den Hauptgrat der Karwendelkette bis zum Brunnsteinkopfe bei Scharnitz.
Schärfer als irgend eine der südlich folgenden Parallelketten wird die Karwendelkette durch einen breiten Schartendurchbruch in zwei Hälften, eine östliche und eine westliche geschieden; in ersterer dominirt der Karwendelspitz, in letzterer das weit schroffere Massiv des Wörner, mit seinen auseinander geneigten, durch zackigen Hochsattel verbundenen Felsgipfeln, ebenfalls eine bekannte Berggestalt des flachen Landes. Zwischen beiden Theilen liegt die Bärnalpelscharte (5474' 1775 m. Gr.-K.), welche das Niveau des Gebirgskammes bis tief in die Kriummholzregion herabdrückt. Wir haben es hier mit der östlichen Hälfte des Karwendelkammes und in dieser speciell mit dem westlichen Abschnitte zu thun, welcher die bedeutendsten Gipfel trägt. Ihre Reihe beginnt, von Osten her zählend, mit dem bereits genannten Grubenkarspitz*) [Anm.: 7560' 2484 m. Die bei Gümbel (Geogn. Beschr. d. Bayer. Alpen-Gebirges) aufgeführten Messungen für einen Grubenkarspitz mit 7756' Lamont, für einen Grabenkarspitz 7773' Lamont und 7790' Walther beziehen sich augenscheinlich auf den Grossen Karwendelspitz.]; ihm selbst gehen östlich voran zwei unbeträchtliche Gipfel, Thor-Wand und Thalelespitz**) [Anm.: Nicht Thaleckspitz, wie auf den Karten meist zu lesen.] letzterer der Knotenpunkt verzweigter, noch bedeutend an Höhe abnehmender Bcrgrücken, deren Hauptzug, nordwärts gewendet, das Johannes- vom Thorthale trennt und mit dem Stuhlkopf über Hinterriss endet. So regelmässig die Südostflanke des Grubenkarspitzes in schräger Linie sich abdacht, so jäh und schroff stürzt seine ganze Westbreite nieder in ein enges, langgestrecktes Kar, das Grubenkar. Die Höhe des letzteren umrandet der Hauptgrat, gegen Norden ausgebogen, mit scharf zerhackten Zinnen und schliesst seinen Halbkreis auf dem Gipfel des Grossen Karwendelspitzes (7755' 2519 m. Gr.-K.). Die Bauart desselben [S. 423] bietet manche Eigenthümlichkeiten, welche einen starken Wechsel in seiner Gestalt, je nach dem Standorte, von welchem aus man sie betrachtet, bedingen. Im Allgemeinen gleicht seine Südflanke dem Mantel eines Halbkegels; der Grat, welcher in einen östlichen und einen westlichen Theil sie scheidet, ist nur in höchster Zone scharf, in mittlerer schwach und am Fundamente des Gipfelmassivs gar nicht mehr ausgesprochen. Ein schneidiger Rücken löst sich in der Gipfelregion bereits von ihm gegen Osten ab und bricht nach längerer Erstreckung steilwandig ins Grubenkar nieder. Durch ihn entsteht, vom Karwendelspitze und der nordöstlichen Hauptgratfortsetzung umgrenzt, ein neues, sehr hochgelegenes Kar, eigentlich eine westliche Ausweitung des Grubenkars, welche verborgen genug liegt, um von wenig andern Standpunkten, als den Gipfeln selbst, die sie einrahmen, sichtbar zu sein. Am regelmässigsten und ebenflächigsten verbreitet sich die Südwestseite des Karwendelspitzes. Ein faltenloser Mantel hellweisslichen Schutts, allmählig mit schwachem Grün sich überziehend, scheint von dieser Seite her seinen Körper zu decken. Diese weiten Plätze führen bei den Einheimischen den Namen ,,Der Wank" oder ,,Im Wank", daher der Name Wank, welcher auf der Oesterr. G.-St.-K. an Stelle des Karwendelspitzes fungirt. Der Fuss des ganzen Bergmassivs ist mit Wandstufen von meist bedeutender Mächtigkeit umbaut; sowohl gegen das buschige Gehänge im Norden der Hochalpe, wie gegen das Kar im Westen des Karwendelspitzes bestehen nur wenige Verbindungslinien, welche das Erreichen der höher gelegenen, frei gangbaren Wiesen und Schuttplätze ermöglichen.
Als zweithöchster Gipfel des Karwendelkammes erhebt sich im Westen des Karwendelspitzes, durch tiefe, von den Schuttfeldern des zwischenliegenden Kars erreichte Grateinsattelung von ihm getrennt, der Vogelkarspitz oder Vögelekarspitz (7715' 2506 m. Gr.-K.). Wie bereits erwähnt, zeichnet derselbe im Gebirge wie im Gebirgspanorama des flachen Landes durch seine regelmässige breite Trapezgestalt sich aus; nur in genauer Streichrichtung seines Scheitelgrates, von Osten oder Westen aus gesehen, verwandelt er diese Trapezgestalt in die einer spitzen Pyramide. In geringer Tiefe unter seinem Gipfel bereits theilt seine Südabdachung sich in zwei mässig breite, wellige Rücken, die zwischen sich eine gerundete Schuttmulde, das Schlichtenkar, fassen. Vom östlichen der beiden Rücken und vom Steilabsturze des Karwendelspitzes andererseits eingesäumt, liegt zwischen beiden [S. 424] Gipfelkörpern das Vogelkar oder Vögelekar, eine breite, hügelige Thalung. Wie gegen Osten an den Karwendelspitz, so besteht auch gegen Westen, an den Vogelkarspitz hinan, eine gangbare Verbindung des Karbodens mit den Südflanken der Gipfel erst in ziemlich beträchtlicher Tiefe. Der Vogelkarspitz ist Ausgangspunkt der Wechselschneid, welche in nördlichem Verlaufe, die Hölzelköpfe und die Rappenspitze tragend, den Bärnbach vom Ronnthale scheidet. Vom Thorthale wird das Ronnthal getrennt durch den Thorkopf, dessen Rücken aus dem Fusse des Grossen Karwendelspitzes sich löst. Beide Seitenthäler der Riss zeigen ziemlich gleichförmigen Charakter, verengen sich an ihrer Ausmündung und weiten sieh, Alpen beherbergend, in ihrem Inneren. Ihr Hintergrund verläuft in Schuttkaren am Fusse der Mauern des Karwendelkammes, die prall, anderthalb bis zweitausend Fuss mächtig, auf sie und ihre Zwischengrate niederstürzen; am Bärnalpel befindet sich die erste mögliche Uebergangsstelle, wiederum die einzige*) [Anm.: Ein Jäger in Mitteuwald behauptete allerdings mir gegenüber die Möglichkeit eines Abstieges vom Wörner auf die Vereins-Alpe.] bis über den Tiefkarspitz und die Lerchenfleckspitzen hinaus. Im westlichen, südwärts umgebogenen Theile des Kammes erst mehren sich die gangbaren Pässe. Trotz ihrer gewaltigen Steile entbehren diese Wände doch keineswegs einer tiefgreifenden Zertheilung in einzelne Rippen und Strebepfeiler und unterscheiden hierdurch sich wesentlich von den glatten Mauern der Hinterauthaler Kette im Hintergrunde von Laliders und (theilweise) von Ladiz. Wunderliche Zackenformen treten in ihnen auf, und an der Wandkante des Karwendelspitzes namentlich klebt ein krumm gebogener, dünner Zahn, dessen Hinabsturz stündlich bevorzustehen scheint. Aber er steht schon lange so und mag vielleicht noch manches Jahrzehent die Thäler der Ronn und des Thorbaches bedrohen.
Westlich vom Vogelkarspitz erhebt sich auf dem Hauptgrate noch ein, im Vergleiche zu seinen Vorgängern sehr unbedeutender Gipfelhöcker, der Schlichtenkarspitz (7542' = 2450 m. Gr.-K.). Noch weiter gegen Westen verläuft die Scheitellinie des Gebirges fast geradlinig und endet mit dem Bärnalpelspitz (kein Gipfel, sondern blosser Eckpunkt) mit Steilabsturz auf die Bärnalpelscharte. Ausgesprochene Verzweigungen und Thalungen fehlen auf dieser Gebirgsstrecke gänzlich. Grasiger Fels dacht sich gegen Süden, Steilwand fällt gegen Norden ab in den waldreichen Thal- [S. 425] kessel des Bärnbachs. Die Tiefzone des ganzen Kammabschnittes vom Grubenkarspitz bis zum Bärnalpel nehmen stark bewachsene, mitunter tief durchschluchtete Gehänge ein, die ihren Fuss in's Karwendelthal stellen; die starken Absenker, welche der Karwendel- und der Vogelkarspitz auf sie herabsenden, endigen ziemlich genau an der Krummholzgrenze mit Steilabsturz. Ein guter Pfad durchkreuzt die buschige Bergflanke von der Hochalpe nach der Bärnalpelscharte, der Abstieg von letzterer in den Bämbach ist jedoch schwer zu finden*) [Anm.: Ich suchte denselben im Jahre 1873 vergebens. Die Bärnalpelscharte besteht aus einem völlig geschlossenen Kessel auf der mit Krummholz bewachsenen nördlichen Umwallung verliert sich der bis dahin kennbare Steig. Der richtige Pfad soll zu äusserst rechts - östlich - den Rücken überschreiten und sein Anfang durch eine nunmehr umgestürzte Signalstange bezeichnet sein. Auch am äussersten westlichen Rande, hart an den Wänden der Raffel zeigt sich etwas, das wie ein Pfad aussieht, es ist jedoch ein Gemswechsel, der auf sehr schmalem Bande auf weite Strecke hin quer durch die Wand führt. Er ist jedenfalls schwierig zu verfolgen und seine Endigung auf die Schuttfelder des Bärnbachkars steht in Frage. Mitten in der Scharte, wo die Oesterr. G.-St.-K. den Steig angibt, ist keine Möglichkeit durchzudringen, weder für Mensch noch für Gemse.].
Den Häuptern des Karwendelkammes steuerte ich zu, als ich nach zwei, auf den Besuch der Falken folgenden Rasttagen am 4. Juli 1870 Morgens 6 Uhr 45 Min. zum dritten Male die Hintere Riss verliess. Der gewohnte Weg führte mich im Johannesthale aufwärts, am Falken vorüber, zu dem ich nunmehr mit frohem Bewusstsein emporsah, auf die Thalebene unter dem Kaltwasserkar und das breite, eintönige Filzthal hinauf in 3 St. zur Hochalpe**) [Anm.: 5217' 1695 m. Trinker. Die Passhöhe, östlich der Alpe gelegen, beträgt 5430' 1764 m. Gümbel.]. Noch war deren Oberläger nicht bezogen, kalt und einsam lag die geräumige Hütte. Der Karwendelspitz stand nahe zu meiner Rechten, das Grubenkar zeigte nur seine enge, mit Krummholz überwucherte Ausmündung. Von dorther musste ich den Anstieg beginnen, da weiter westwärts die Steilwände des Bergfundamentes eine Annäherung nicht mehr zu gestatten schienen. Mein Ziel war der ,,Wank", die Schuttbekleidung der südwestlichen Bergfläche; auf ihr war mir der Weg zum Gipfelgrate hinauf geebnet. Ich lenkte daher an der Hochalpe von dem in's Karwendelthal hinunterführenden Wege ab und wanderte quer über den hügeligen, zerfurchten Boden der Alpweide geradlinig in den grossen Schuttgraben hinein, welcher den Aufschluss des Grubenkars bezeichnet. In diesem [S. 426] aufsteigend gewahrte ich an seiner linken Seite bald einen Schafsteig welcher nach viertelstündigem Laufe längs des trockenen Geröllbettes an eine steile, sehr schwach begrünte, unmittelbar an den Fuss der Felsen stossende Reisse mich leitete. Das Grubenkar weiter zu verfolgen, erschien mir nicht rathsam; soweit ich dessen Hintergrund aus eigener Anschauung kannte, wusste ich denselben von Steilwänden umschlossen, und es lag kein Grund vor, am Abfalle des Karwendelspitzes auf ein günstigeres Verhältniss zu hoffen. Ich erstieg daher die Reisse zur Linken und begann an den Schrofen aufwärts zu klettern. Der Anfang erwies sich, wie zu erwarten stand, als steil, spärlich mit Grasstreifen durchwirkt bot der Felsen allerwärts nur schmale Bahn, luftig zwischen Himmel und Erde ; doch war auf den weichen Rasenpolstern der Tritt ein sicherer, Unterbrechungen des gangbaren Bodens in Form kahler Plattstufen begegneten nicht allzu häufig, und wo sie vorkamen, fehlte es auch nicht an eingeschobenen Spalten und Kaminen, ihre Ersteigung zu erleichtern. Soweit das Terrain es gestattete, hielt ich vorwiegend eine links abzielende Schrägerichtung inne, welche den breiten Plätzen des Wank mich näher bringen sollte ; auch konnte ich nach einiger Zeit zu meiner Befriedigung wahrnehmen, dass ich meine Wahl gut getroffen, der Boden lichtete sich, die einengenden Mauern nach der Grathöhe sowohl wie nach der Tiefe des Thales traten zurück, grünes, steiniges Gehänge, von flachen Längewellen durchstrichen, breitete gegen Westen sich hin. Ueber seinen abgeschnittenen Rande erschien die pyramidale Felsgestalt des Vogelkarspitzes.
Ich hätte nun ohne Beschwer in geradem Anstiege den Scheitel des vom Karwendelspitze sich ablösenden Grates gewinnen und auf ihm meinen Weg fortsetzen können. Eine Wahrnehmung jedoch, die ich von früher erstiegenen Punkten und namentlich vom Falken aus gemacht hatte, liess mich auf eine andere Angriffslinie sinnen. Dieser Grat weist nämlich, in unmittelbarer Nähe des Gipfels, eine Scharte, von überhängendem Felszahne beherrscht, auf welch' letzteren das Verfolgen des Gratscheitels nothwendigerweise mich hinausführen musste ; es stand sohin für die letzten Momente der Ersteigung noch ein sperrendes Hinderniss zu besorgen. Durch einen westwärts, in die Schuttfelder des Wank hineingreifenden Bogen hoffte ich das Zackengebilde zu umgehen und unmittelbar auf den Gipfel oder doch in die Scharte vor demselben zu gelangen. Ich blieb deshalb bei der bisherigen Schräge-Richtung.
[S. 428] Mehrere, den Ausblick theilweise deckende Terrainwellen wurden überschritten, nach einiger Zeit befand ich mich dem abbrechenden Rande des Vogelkars ziemlich nahe und blickte auf seine weissen Schuttfelder hinunter und hinauf zu den wild zerborstenen Mauern ihrer Umsperrung durch den Hauptgrat. Die Flanken des Karwendelspitzes zeigten nach dieser Seite sich völlig ebenflächig, wiewohl von starker Neigung; eine Strecke weit hatte ich noch gut gangbaren Grasboden, allmählig aber gewann das Gerölle die Oberhand und der langwierige, ermüdende Marsch über die haltlosen Sehuttfelder nahm seinen Anfang. Ich gewahrte bald, dass die Steigung des Zweiggrates von mir bedeutend unterschätzt worden war, und sein Scheitel jetzt, obgleich ich in meinem Quergange niemals aufgehört hatte, an Höhe zu gewinnen, bedeutend weiter von mir entfernt lag als vorher, bei Verlassen der Felsabsätze. Erst sah ich überhaupt noch Nichts vor mir, als die Abgrenzung des Schuttgehänges durch unbedeutende Unterbrechungen seiner geradlinigen Abdachung, später erschien über den weissen Geröllflächen, als düster gefärbte, niedrige Mauerkrone der Gipfelgrat, noch immer durch eine beträchtliche Höhendifferenz von mir getrennt. Der tiefe Schutthoden wandelte sich nun allmählig in eine Aufeinander-folge rundlicher, plattiger, mit Gries bedeckter Stufen, ihre Häufung erwies nach der linken Seite sich steiler und glatter und hinderte eine genügende Ausbiegung nach jener Richtung, um mit Bequemlichkeit den Zacken und die Gratscharte zu umgehen. Und anstatt einen Umweg in dieser Richtung mit Schwierigkeit zu forciren, dachte ich vernünftiger Weise doch auf dem Grate erst nachzusehen, ob das Hinderniss in Wahrheit so bedeutend und unüberwindlich sei. - Mit wenigen Schritten über rauhes Geschröf war ich auf dem Scheitel; ich blickte die lange Zeile rissigen, aber durchweg gut gangbaren Felsens zurück gegen Süden und überzeugte mich, dass ein Weg von dort herauf weit leichter und kürzer gewesen wäre, als meine Umgehung nach der Westseite. Ich sah gen Osten hinunter in die flache Mulde, vom Haupt- und Zweiggrat im Bogen umspannt, - auch von hier wäre dem Bergsteiger ein Weg auf den Karwendelspitz gebahnt, denn der Steilabfall dieser Mulde in die Hochregion des Grubenkars erweist sich gleichfalls an mehreren Stellen als gangbar. Die brüchigen Zacken des Grates verfolgte ich gen Nord und gewann nach Kurzem den verdächtigen Zahn; 10' tief unter mir lag der Boden der Scharte und auf dem rauhen, zerborstenen Gefelse erwies sich eine Umgehung nach beiden [S. 429] Seiten als ausführbar; ich wählte die Westseite, wo eine ausgeprägte und gut zu fassende Stufe im Steilabsturze den Abschwung erleichterte. Der Gipfel, in weissen Plattenlagen vor mir aufsteigend, war nun binnen fünf Minuten gewonnen; auch an ihm vermittelten zahlreiche Ritze und Abstufungen eine weit grössere Leichtigkeit der Esteigung, als seinem glattplattigen Aussehen nach zu hoffen gewesen war. 2 Stunden nach Aufbruch von der Hochalpe, 5 Stunden nach Verlassen von Hinterriss, um 11 Uhr 45 Min. sass ich auf dem gestreckten, schneidigen Gipfel (7755' 2519 m. Gr.-K.). Auffallend genug trägt derselbe weder ein Signal, noch ist überhaupt eine Spur davon zu erblicken, dass je einmal ein solches dort bestanden habe. Schwierige Ersteigbarkeit bildet für den Karwendelspitz sicherlich keinen Entschuldigungsgrund solcher Vernachlässigung.
Nordwärts blickte ich über gewaltige, fast senkrechte Steilwände hinunter in's Ronnthal. Ich bemerkte, dass der Zweigkamm, der dieses vom Thorthale scheidet, nicht genau unter dem Karwendelspitze aus der Masse des Hauptkammes sich ablöst, sondern etwas weiter östlich. Ein auffälliger, viereckig abgehackter Zucken über dem Grubenkar *) [Anm.: Siehe das beigegebene Gebirgsprofil] ist als seine wahre Wurzel auf dem Hauptgrate zu betrachten. Sein erster Verlauf, nahe den Wänden des letzteren, ist in die unförmlichsten Klötze und Klippen zerspalten, in ihm tritt auch die fingerförmig gebogene Felssäule auf, deren früher bereits Erwähnung geschah.
Obwohl nicht mehr in früher Morgenstunde, war die Aussieht bei theilweise bewölktem Himmel (doch völlig ungetrübt geblieben. Nur in ihrer nördlichen Hälfte besitzt dieselbe eine beträchtliche Ausdehnung und erstreckt sich über das Riss- und Walchensee'r Gebirge hinweg weit über die Ebenen Ober-Bayerns. Im Süden dagegen ist sie beschränkt durch den nahestehenden, mächtigen Wall der Hinterauthaler Berge, doch nicht gering ist das Interesse, welches diese riesigen Gipfelmassen und Kare dem Beschauer darbieten, welches sie mir zumal gewährten, der ich in den nächsten Tagen ihr Gebiet zu betreten gesonnen war. Die Formation geschlossener Steilwände, wie der östliche Theil der Hinterauthaler Kette, seine Fortsetzung in der Rossloch- und Vomperkette so auffällig sie zeigt, weicht vom Birkkarspitze ab der Bildung weitgedehnter, flacher Geröllkare, plattiger Hügelmulden zwischen den Zweiggraten der [S. 429] Gipfel, während die Tiefzone, auf der Sohle des Karwendelthales fussend, meist unzertheilte, schroffe Abstürze zeigt, und manches der Nordkare der Hinterauthaler Kette auf directem Wege gar nicht zu ersteigen gestattet. Schlauchenkar, GrossesMarxenkar, Seekar*) [Anm.: Westlich des Grossen Marxenkars; der vom Seekarspitz hergeleitete Name wurde von mir vermuthungsweise auf diesen Kessel bezogen, auf welchen er mir am besten zu passen scheint.], Bockkarl**) [Anm.: Ein anderes Bockkarl befindet sich im Rossloch am Ostfusse des Sonnenjochs.], Riedlkar, Larchetkar, lagen vor mir aufgeschlossen. Ich bemerkte zu meinem Erstaunen, dass in der Nordseite der Hinterauthaler Kette fast jede Scharte ersteigbar, die Wege nach ihren Gipfeln oder von diesen zurück zur Tiefe daher auch für das Karwendelthal gebahnt seien. Zunächst hatte ich den gewaltigen Stock der Oedkarspitz-Gruppe mir gegenüber und einen tiefen Einblick in das gewundene Schlauchenkar, aus dessen weisser Firndecke der Birkkarspitz seine dunkle, schrofige Gipfelpyramide erhebt. Ich ersah alsbald die Möglichkeit, über jene Schneefelder bis auf den Gratsattel und längs des Grates ostwärts auf den Birkkarspitz - westwärts auf den Oedkarspitz zu gelangen; die Hochalpe als Nachtquartier gewährte mir für diese Tour einen höchst erwünschten, in der Karwendel-Gruppe selten vergönnten Höhen-Vorsprung. Günstige Witterung vorausgesetzt, plante ich diese interessante Hochtour auf die Culminationspunkte des Isar-Quellengebietes für den folgenden Tag. Für den heutigen blieben noch einige werthvolle Stunden zu nützen.
Um 2 Uhr Nachmittags verliess ich den Grossen Karwendelspitz auf dem gleichen Wege, den ich heraufgekommmen, und verfolgte die Geröll- und Grasplätze des Wank in gerader Linie abwärts, so lange, bis der Steilabsturz in's Vogelkar mir Einhalt gebot. In geringer Entfernung vom Saume und gelegentlich von vorspringenden Caps desselbcn rekognoscirend, stieg ich die terrassirten Bergwiesen in südlicher Richtung hinunter; die Wände welche vom Boden des Vogelkars mich trennten und deren Stärke von Anfang nicht viel mehr als 150' betragen mochte, verminderten ihre Höhe zusehends, je tiefer ich am Gehänge des Karwendelspitzes hinabgelangte; ihr mauerschroffer Abfall jedoch wollte den Abstieg in's Kur noch immer nicht gestatten. Ich hatte übrigens wenig Grund, diesem Hindernisse zu grollen; denn die westliche Einfassung des Vogelkurs, an welcher ich den [S. 430] ersten Anstieg nach dem Gipfel zu bewerkstelligen hatte, zeigte sich ebenfalls erst in beträchtlicher Tiefe gangbar. Endlich, nachdem die Steilstufe zu meiner Rechten bis auf 20-30' Höhe zusammengeschrumpft war, ersah ich eine brunnenartige Kluft, welche ohne grosse Schwierigkeit mich in die Thalsolhe beförderte; auf ihren Plattenhügeln und Geröllstrichcn angelangt, bemerkte ich etwas tiefer einen anderen, weit bequemeren Eingang, und an ihm deutliche Spuren eines Steiges, was ich zur Notiz für den Rückweg nahm. - Die klüftigen, fast ebenen Steinflächen des Vogelkars kreuzte ich in gerader Linie nach ihrem jenseitigen Rande; ich war just an der gleichen Stelle in's Kar herabgekommen, an welcher auch die Möglichkeit einer Ersteigung der Ostkante des Vogelkarspitzes sich bot. Die unteren Partieen erwiesen sich, gleichwie am Karwendelspitze, als steil, und der Schwierigkciten nicht ganz entbehrend. Ein starkgeneigtes, sparsam gestuftes Platt vermittelte den ersten Anstieg nach schmalen Treppen augewurzelter Rasenschöpfe und rauher Schrofenbrüche, in wenigen Minuten war sodann die breite, allerwärts gangbare Südflanke des Vogelkarspitzes erreicht. Wie ich vom Karwendelspitze herabgekommen, so gings nun, jenseits der Tiefe des Vogelkars, wieder hinauf; breit, ohne jedwedes Hinderniss, eintönig, ermüdend. Der Grasboden wandelte sich allmählig wieder zu Schutt und schrofigem Gehänge; zu meiner Linken erschien die flache Mulde des Schlichtenkars und verschwand wiedcr, als ich die breitgeschlossene, kahle Südabdachung des eigentlichen Gipfelmassivs betreten hatte l 3/4 Stunden nach Aufbruch vom Karwendelspitze betrat ich den Scheitel seines westlichen Vis-à-vis, und zwar au seinem östlichen Eckpunkte, welcher eine Signalstange trägt --- die erste in der ganzen Karwendelkette, vom Thalelespitz an gezählt. Den horizontalen Gipfelgrat bis an sein Westende übergehend beobachtete ich, dass die mittlere der drei, äusserst flachen Wellenhebungen, in welche er sich theilt , den eigentlichen Culminationspunkt darstellt, dass dagegen der Ablösungspunkt der Wechselschneid unter der westlichen Gipfelecke gelegen ist. Auf dieser hielt ich noch kurze Rast. (Vogelkarspitz 7715' 2506 m. Gr.-K.).
Die Thalaussicht gegen Norden erstreckte sich nun gleichzeitig über die Thäler der Ronn und des Bärnbaches ersteres waldumrahmt, in seinem Grunde jedoch mit breiten Wiesenteppichen belegt und zahlreiche Alphütten beherbergend; letzteres ein durchschluchteter, von dunklen Forsten erfüllter [S. 431] Kessel. Im Nordwesten zieht das Sojerngebirge seine flach pyramidenförmigen, weisslichen Gipfel, und weiter hinaus gegen das Flachland erscheinen die wohlbekannten Gestalten des Herzogstand und Heimgarten. Zwischen den tiefgrünen Rücken und Bergköpfen des Wallgauergebirges schlummert der Spiegel des Walchensees, seine Bläue verschwimmt fast unmerklich in dem Blaugrün der fernen Berge, so dass ein geübtes Auge dazu gehört, ihn sofort aus ihrer Masse herauszufinden; ich hatte am Karwendelspitze dieses hübsche Aussichtsobjekt gänzlich übersehen und doch muss der Walchensee, theilweise wenigstens, auf dem Karwendelspitze sich zeigen, denn das Umgekehrte ist der Fall: man sieht, auf dem Walchensee fahrend, diesen Gipfel über den Waldbergen der Jachenau. - Südlich hatte ich wieder die Hinterauthaler Kette vor mir und nun war es das Grosse Marxenkar, welches vorzugsweise den Ausblick nach jener Richtung erfüllte, das gedehnte Wellenplatean seiner Mittelzone, die getheilten Schutthecken seiner Hochregion vor mir entfaltete. Ich ersah deutlich den künstlichen Pfad, der an der Grenze des Krummholzwuchses beginnend in langen Serpentinen, nicht selten in die Wände eingehauen, auf den Thalboden der Karwendelalpe herabführt. Die Gangbarkeit des gesammten Hauptgrates vom Oedkarspitz bis zum Seekarspitz konnte nach der Ansicht desselben, wie sie auf den Häuptern der Karwendelkette mir geworden, nicht mehr in Zweifel stehen, und der Plan für meine erste Exkursion in die Reihen der Hinterauthaler war damit entworfen.
Ein stumpfer Felskegel bildete mein nahes Gegenüber im Westen; seine Gestalt war ebensowenig als sein Rang dazu angethan, mich zu reizen. Doch lag er mir so nahe am Wege, dass ich trotz seiner bescheidenen Verhältnisse einer Aufmerksamkeit ihn würdigen mochte. Ich stieg längs der Südwestkante des Vogelkarspitzes ab, überschritt den Sattel zwischen beiden Gipfeln, von welchem nordwärts die Wand in einen eingesunkenen Trümmerkessel niedersetzt, bevor sie sich zur Tiefe des Bärnbaches stürzt, und stieg um steilen, aber stufenreichen Felsen jenseits wieder hinan; eine halbe Stunde nach Verlassen des Vogelkarspitzes stand ich auf dem breiten, ziemlich stark begrünten, mit einer Steinpyramide versehenen Gipfel des Schlichtenkarspitzes (7542' 2450 m. Gr.-K.). Die Fernsicht von ihm bot mir nichts Neues und mit der des Vogelkarspitzes verglichen keine weitere Veränderung, als die der Abschwächung. Der sanft gesenkte und sodann auf weite Strecke völlig horizontal verlaufende [S. 432] Westgrat wäre ohne die geringste Schwierigkeit bis zur Bärnalpelscharte zu verfolgen gewesen.
Es war bereits halb 6 Uhr Abends, als ich von diesem letzten Gipfelpunkte aufbrach, zur Heimkehr. Einen kürzeren Rückweg, als den über den Scheitel des Vogelkarspitzes einzuschlagen, stieg ich vom Schlichtenkarspitz gerade abwärts, wandte mich sodann links und kreuzte einige hochgelegene, plattige Mulden. Am Rande des Schlichtenkars angekommen, fand ich mich durch Steilabstürze wieder aufgehalten und zu tieferem Absteigcn genöthigt, wobei ich auch bald eine gangbare Verbindungslinie traf. Nachdem ich auch diese Mulde durchquert, verfolgte ich am südöstlichen Absenker des Vogelkarspitzes, von ihm hinab in's Vogelkar, und quer durch dieses nach dem Fusse des Karwendelspitzes wieder ein Stück meiner früheren Weglinie. An den Wandstufen des Karwendelspitzes aber hielt ich mich alsbald an das im Herüberwege beobachtete Steiglein, welches, um die untersten Ecken der Schrofen sich windend, bequem auf die Südflanke des Bergmassivs mich hinüberleitete. Seine Fortsetzung schien gleichwohl meinen Absichten nicht völlig zu entsprechen, sie wies zu gerade, in zu hochgehaltener Linie in die Wände hinein. Nochmals eine beträchtliche Strecke gerade absteigend, über Geröllriesen und krummholzfreie, steinige Plätze, kreuzte ich einen in tieferer Zone laufenden Pfad, welcher sanft absinkend durch alle Gräben der Bergflanke und zuletzt zur Hochalpe mich zurückführte.
Die Uhr zeigte sieben, die Sonne begann dem Horizonte sich zuzusenken; doch war's kein schöner Untergang und keinen schönen Aufgang versprach dieser ; die Tagesgewölke hatten im Westen zu eintönig düstergrauer Wand sieh zusammengeschoben, durch ihre Risse nur leuchtete die Glut des Abends hervor. Ich überstieg den flachen Bergsattel und wanderte zum Niederläger hinab, den ich nach einer halben Stunde erreichte. Dem Abendschmausc an der gemeinschaftlichen, mit Mehlbrei gefüllten Pfanne folgte im offenen Kuhstalle, dessen Inwohner mit ihren respectiven Halszierden ein heilloses, nimmer endendes Geschelle verübten, eine schlaflose, entsetzlich lange Nacht.
Und der andere Morgen war trüb und regengrau. Ich wartete einige Stunden, rüstete mich aber, da keine Besserung sich wahrnehmen liess, gegen 8 Uhr zum Aufbruche nach Hinterriss. Wer mir, als ich die Alpe verliess, hätte prophezeien wollen, dass ich mein Standquartier noch Wochenfnst erst wieder betreten würde! Ich war noch keine halbe [S. 433] Stunde lang abwärts gestiegen als die Wolkendecke sich zu hellen und zu brechen begann; noch wollte ich an solch' unerwarteten Umschwung nicht glauben, aber kaum war ich in's Johannesthal eingetreten, so schien das Himmelsblau durch die Wolkenlücken, entwischte Sonnenstrahlen spielten an den Gehängen der Berge umher, und die stolzen Felsenhäupter streiften das Dunstgewand in grossen Fetzen von sich. Frevel wäre es gewesen, unter solchen Aspecten in's Thal, in die Stube zurückzukehren. Um 10 Uhr war ich wieder auf dem Niederläger, und der helle Mittag und Nachmittag sah mich auf den östlichen Warten des Karwendelkammes, auf der Thorwand und dem Thalelespitz. Das Nachtmahl nahm ich wieder auf dem Niederläger ein, Nachtruhe aber suchte ich mir diesesmal auf dem Heuschober der einsamen Hochalpe jenseits der Passhöhe. Am 6. Juli stieg ich bei unvergleichlich klarem Himmel durch das Schlauchenkar hinauf zum Birkkarspitz, dem Beherrscher des Quellengebietes der Isar, überwanderte den Grat der Hinterauthalerkette von dem dreigipfeligen Rücken des Oedkarspitzes bis zum Seekarspitz, von welchem das Nachmittagsgewitter rasch mich vertrieb, und stieg durch's Marxenkar hinunter in's Karwendelthal*) [Anm.: Eine Beschreibung dieser Tour siehe Ztschr. d. D. A.-V., Bd. II, H. 1, S. 75-108: "Ein Tag auf den Spitzen der Hinterauthaler Kette."]. Am 7. Juli sass ich auf dem Oestlichen und Westlichen Wörncr **) [Anm.: Der Name Wörner ist bayerisch; tirolerseits heissen die beiden Spitzen Hochkarlspitze und Grosskarspitz.], umringt von einer Schau'. kleiner, umherziehender Gewitter. Ein 2stündiger Abendmarsch brachte mich hinaus nach Scharnitz, wo ich am 8. Rast hielt, mich, und, was vor Allem nöthig, mein Schuhwerk zu restauriren. Jeder Tag verlief damals genau wie sein Vorgänger, kein Nachmittag, der nicht ein scharfes Hochgewitter mit sich führte, kein Morgen, der nicht Sonnenglanz und blauen Himmel zurückgebracht hätte. Am 9. besuchte ich die Gipfel des südlich abgebogenen Endes der Karwendelkette, Brunnsteinkopf, Rothwandl- und Sitzelklammspitz, am 10. die schroffen Zinnen in der Umrandung des Kirchelkars und der Karwendelgrube: den WestlichenKarwendelspitz, den höchsten und äussersten der Karwendelköpfe***) [Anm: Mit diesen Namen bezeichne ich, Mangels einer bekannten Benennung, die vom Westlichen Karwendelspitz (DaIl'Armi-Kreuz) nordwärts vortretendcn scharfen Zacken, deren äusserster die Höhe des Karwcndelspitzes nahezu erreicht], den Linder- [S. 434] stein und das Karwendelkreuz über Mittenwald. An beiden Tagen bezog ich Nachtquartier auf der Larchetalpe im Karwendelthale. Am 11. beschloss ich mit der schwierigen Ersteigung des Tiefkarspitzes*) [Anm.: Tiroler Benennung: die bayerische Bezeichnung für diesen Gipfel lautet, soferne ich die Mittenwalder Jäger recht verstand ,,Hinterer Wörner" Er zeichnet sich im Panorama des Flachlandes durch seine schön regelmässige Pyramidengestalt aus.] meine Hochtouren im Karwendelkamme und wanderte am 12. über die Hochalpe in die Riss, am 13. über das Plumserjoch, über welches ich vor 17 Tagen gekommen, zurück an die Ufer des Achensees.