Gutachten
aus dem Alpinwesen
Lawinenunfall
Jamtal, 28.12.1999
Mag. Michael Larcher
Allgemein beeidigter und gerichtlich
zertifizierter Sachverständiger
Anm.: Das Gutachten hat
insgesamt 71 Seiten. Hier wird nur die Zusammenfassung der wichtigsten
Ergebnisse wiedergegeben. Hier Ausführungen des Gutachters in der
mündlichen Hauptverhandlung finden sich hier.
ZUSAMMENFASSUNG
Die Ausführungen zum
Lawinenunglück am 28.12.1999 im Tourengebiet der Jamtalhütte,
bei dem 9 Personen in einer Lawine starben, erfolgten unter der geforderten
Prämisse einer strengen ex ante Betrachtungsweise und mit dem Bemühen,
dem komplexen Geschehen durch eine möglichst umfassende Betrachtungsweise
gerecht zu werden.
Dazu war es auch erforderlich,
die gegenwärtige Praxis, das aktuelle Paradigma der handelnden Bergführer
darzustellen und es war klarzustellen, dass sowohl der zeitliche Rahmen,
als auch die sehr kontroversiellen Meinungen z.B. zur Reduktionsmethode,
eindeutig ausschließen, von einem allgemein anerkannten, allgemein
gebräuchlichen Verfahren zur Entscheidungsfindung zu sprechen. Die
Frage der Vorhersehbarkeit, inwieweit die Gefahr hätte erkannt werden
können, musste demnach weitgehend auf Grundlage klassischer Kriterien
der Entscheidungsfindung erfolgen.
Nach eingehendem Studium
aller Akten und den vor Ort gewonnenen Erkenntnissen stellt sich für
den Gutachter eine Situation dar, die mit dem Begriff ,,Falle" am treffendsten
bezeichnet werden könnte:
Diese bestand im wesentlichen
aus folqenden Umständen:
-
Der Hang wurde bereits 5 Stunden
früher unter vergleichbaren Belastungsverhältnissen erfolgreich
begangen.
-
Die am Morgen angelegte Spur
war noch sichtbar.
-
Luv-Hang. Der Hang war dem Wind
zugeneigt, Schnee musste also eher erodiert als angesammelt werden.
-
Geringe Steilheit im Spurbereich.
Der wirklich steile Teil des Hanges musste nicht betreten werden.
-
Der triebschneegefüllten
Rinne, aus der die Lawine kam, war ein schwach ausgeprägter Rücken
vorgelagert. Eine Störwirkung über diesen hinausgehend musste
unwahrscheinlich erscheinen.
-
Geringe Gesamtschneehöhe
und relativ bescheidener Neuschneezuwachs. Der Eindruck war verführerisch,
dass die für ein Schneebrett notwendigen, zusammenhängenden Schneeflächen
gar nicht vorhanden waren.
-
Hüttennähe. Die Hütte
war bereits derart nah, dass die Vorstellung, die Tour sei eigentlich schon
vorbei, immens verführerisch sein musste.
-
Drei Bergführer mit vielen
Jahren Praxis. Durch die kollektive Einstimmigkeit musste ein subjektives
Gefühl höchster Sicherheit entstehen.
-
Routine. Der Talboden wird eben
allgemein immer durch Querung dieses Hanges erreicht. Es war die allgemein
übliche Spur.
Unter Berücksichtigung
aller bekannter Details und Umstände sind die Entscheidungen an diesem
Tag nachvollziehbar und aus Sicht des Gutachters als der Situation weitgehend
angemessen zu bewerten. Konkret:
Das Tourenziel Rußkopf
-
Ausgehend von den am Abend des
27.12., bzw. am Morgen des 28.12. vorliegenden Informationen betreffend
die lokale Lawinengefahr sowie unter Berücksichtigung der umfassenden
Ortskenntnisse der Bergführer, ist das gewählte Tourenziel ,,Rußkopf
aufgrund der Geländecharakteristik - auch unter Berücksichtigung
der überwiegend pessimistischen Wetterprognose - als den Verhältnissen
noch angepasst zu bewerten.
Erste Begehung des NW-Hanges
-
Die Begehung des NW-Hanges am
28.12.99 um 9.00 Uhr in den von L. und S. angelegten Spuren war, aufgrund
der zahlreichen sichtbaren Steine, des allgemein als gering zu bezeichnenden
Neuschneezuwachses und aufgrund seiner grundsätzlichen Luv-Exposition,
als führungstechnisch gerade noch zu rechtfertigende Entscheidung
anzusehen.
-
Dass die objektiven Gefahrenzeichen,
die Kombination von Neuschnee, starkem Wind und tiefen Temperaturen allerdings
auch in Richtung Verzicht hätten interpretiert werden können,
lässt das Verhalten B.s vermuten.
-
Insofern ist das absolute Sicherheitsgefühl
der beiden Schigruppen und der Gruppe P. und der daraus folgende Verzicht
auf Entlastungs- bzw. Sicherheitsabstände nicht nachvollziehbar und
erscheint der Situation nicht angemessen, zumal es sich um die erste Begehung
handelte und die tatsächlichen Verhältnisse erst zu erkunden
waren.
Weiterer Aufstieg und Umkehr
-
Das Verhalten der Bergführer
beim weiteren Aufstieg, insbesondere am Rückweg, ist aus fachlicher
Sicht als einwandfrei zu bewerten und lässt professionelle Umsicht
durchblicken.
-
Der Zeitpunkt der Umkehr erscheint
maximal ausgereizt. Die Wetterverschlechterung setzte sich kontinuierlich
durch und hätte einen etwas früheren Abbruch nahe legen können.
Die zweite Begehung des NW-Hanges
-
Aufgrund der Begehung bzw. Befahrung
am Morgen, zusammen mit dem Umstand der noch sichtbaren Spur, die zwischen
markanten Felsen angeIegt war; mussten die Bergführer zu dem Schluss
kommen, dass eine wiederholte Begehung dieser Spur, die zudem den wirklich
steilen Teil des Hanges nicht berührte, zu verantworten ist. Ein Verzicht
in der gegebenen Situation, die zudem von dem Umstand der Hüttennähe
stark beeinflusst sein musste, würde als geradezu übermenschliche
Leistung erscheinen.
Das Verhalten bei der Querung
-
Der Verzicht auf die Anordnung
von Entlastungsabständen ist unter Berücksichtigung des gegenwärtig
noch gültigen Paradigmas in dem sich Entscheidungs- u. Handlungspozesse
alpiner Führungskräfte abspielen und aus der besonderen Geschichte
dieses Tages heraus - der Hang wurde bereits ohne Abstände erfolgreich
gequert, die Spur war noch sichtbar - psychologisch nachvollziehbar und
plausibel.
-
Gleichzeitig bleibt der Umstand,
dass die Gefahrenzeichen Neuschnee, sehr starker Wind, tiefe Temperaturen,
Steilhang und die als erheblich bis groß eingeschätzte Lawinengefahr
derart offenkundig waren, dass aus streng lawinenkundlicher Sicht ein latentes
Risikopotenzial hätte erkannt werden und zumindest zur Veranlassung
von Entlastungsabständen führen müssen.
Die Lawine
-
Gerade in diesem Hangbereich
musste von den Bergführern, bedingt durch den zwar schwach ausgeprägten,
aber dennoch der Rinne vorgelagerten Rücken und aufgrund der geringen
Neigung des Geländes im Bereich der Aufstiegsspur, die Möglichkeit
einer Lawinen-Fernauslösung weitgehend ausgeschlossen werden.
Auch die in dieser Rinne
vorliegende Altschneedecke in der Härte 4 (Bleistift), die eine denkbar
günstige Gleitfläche darstellte, konnte so nicht erwartet werden.
-
Durch die erhebliche Zusatzbelastung
in dem betreffenden Hang, sowie in Kenntnis der extremen Labilität
frischer Triebschneeansammlungen und der Statistik, betreffend die Auslöseursachen
von Lawinen, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden,
dass das Schneebrett von den Bergsteigern selbst fern-ausgelöst wurde.
Die Rettungsmaßnahmen
-
Die rettungstechnischen Leistungen
nach dem Lawinenabgang sind als außerordentlich zu bewerten: Es gelang,
in einer Zeitspanne von ca. 65 Minuten 14, bis zu über 2 Meter tief
verschüttete Personen zu orten und freizulegen.
Schlussbemerkung:
Zu hoffen bleibt, dass die
Dramatik der Ereignisse und das Ausmaß der Katastrophe ein eindringlicher
Appell an verantwortliche Personen und Stellen sind, die Weiterentwicklung
und Verbreitung strategischer Entscheidungs- und Handlungskonzepte zu forcieren.