Kleine Lawinenkunde für Schneeschuhwanderer

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Die Lawine stinkt nicht

Im verschneiten Gebirge besteht stets eine latente Lawinengefahr. Die Lawinengefahr ist besonders heimtückisch, da sie im Gelände nicht immer leicht zu beurteilen ist. Insbesondere für Anfänger sind die Kennzeichnen von Lawinengefahr (schlechter Schneedeckenaufbau, windverfrachteter Schnee, ...) schwer zu erkennen. Andererseits ist die Gefahrenbeurteilung auch keine Zauberei. Es gibt sogenannte Entscheidungsstrategien, die dem Tourengänger helfen mit wenigen, relativ einfach feststellbaren Parametern eine vernünftige Entscheidung zu treffen.
Dabei sind zunächst zwei Mißverständnisse auszuräumen:

Absolute Sicherheit gibt es nicht!

Das ist die schlechte Nachricht. Es bleibt stets ein Restrisiko. Es gibt Versuche, dieses abzuschätzen. Munter ist z.B. der Ansicht, daß bei Beachtung seiner Reduktionsmehtode (Restrisiko 1) das Restrisiko einer Verschüttung etwa 1:100.000 beträgt (entspricht dem Risiko einer anspruchsvollen Bergwanderung).

Man kann seine Sicherheit aber fast beliebig steigern

Das ist die gute Nachricht. Es gibt nicht das Restrisiko, das ein gestandener Tourengänger eingehen muß. Jeder kann nach seiner persönlichen Risikobereitschaft entscheiden. Man kann z.B. generell auf Touren ab Gefahrenstufe 3 verzichten oder bei Anwendung der Reduktionsmethode von Munter sein akzeptables Restrisiko auf 0,5 statt 1 festsetzen.
Viele schwere Unfälle der letzten Zeit, insbesondere mit geführten Gruppen (z.B. in der Saison 1999/2000: Jamtal, Matscher Tal, Kitzsteinhorn) beruhten auf der Eingehung sehr hoher Risiken, die nach den modernen Strategien ohne weiteres erkennbar und damit vermeidbar gewesen wären (vgl. Munter (2003) S. ##).

Entscheidungsstrategien

Die Beurteilung der konkreten Verhältnisse vor Ort anhand der vorgefundenen Schneedecke ist auch für den Profi schwierig. Die Verhältnisse in der Schneedecke können auch kleinräumig so stark divergieren, daß punktuelle Schneedeckenuntersuchungen (z.B. Anlegen eines Schneeprofils, eines Rutschblocks oder der Stocktest) nur von geringem Nutzen sind.
Angestoßen durch die Forschungen des Schweizer Lawinenexperten Munter vom EISLF hat sich in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel in der praktischen Lawinenkunde vollzogen. Die praktische Lawinenkunde für Tourengänger kann nur eine strategische Lawinenkunde sein. Anhand einiger weniger, einfach zu ermittelnder Parameter soll entschieden werden, ob die Begehung eines Hanges mit vertretbarem Risiko möglich ist. Diese Parameter sind insbesondere:

Die wichtigsten Strategien

Im deutschsprachigen Alpenraum haben sich in den letzten Jahren vor allem 3 Strategien in der Ausbildung der Alpinvereine etabliert:

Die elementare Reduktionsmethode: Hangneigungslimits

Durch die Methodenvielfalt sollte sich der Einsteiger nicht verwirren. Kern aller Strategien sind Hangneigungslimits. Diese Konzept hat schon Munter als Elementare Reduktionsmethode (ERM) vorgestellt. Die ERM bildet auch einen zentralen Baustein von Stop or Go. Die AV-Snowcard verwendet eine Farbgrafik mit fließenden Übergängen zur Darstellung der Hangneigungslimits. Damit wird der trügerische Eindruck scharfer Grenzen vermieden. Das Ergebnis einer Rechenoperation kann nie exakter sein, als die Eingangsdaten. Diese beruhen oft auf Schätzung. Trotzdem ist eine Risikoabschätzung nach der Reduktionsmethode sinnvoll. Man muß allerdings der Versuchung widerstehen können, sich einen Hang durch Drücken aller Einzelparameter schön zu rechnen, sondern bei Unsicherheit vernünftige Mittelwerte schätzen oder je nach Sicherheitsbedürfnis konservativ abschätzen.
Die ERM ist als 5-Grad-Regel leicht zu merken: Mit jeder Stufe der Gefahrenskala reduziert sich der Spielraum für Touren um 5 Grad. Die Anwendung der Regel ist jedoch nicht ganz so trivial, wie es klingt. Dies gilt sowohl für die Bestimmung der Hangneigung nach der Karte oder im Gelände (vgl. AV-Snowcard), als auch hinsichtlich der Frage, welchen Einzugsbereich man berücksichtigen muß (AV-Snowcard). Je höher die Gefahrenstufe desto weiträumiger muß man denken. Im Zweifel sollte man den gesamten Hang berücksichtigen, nicht nur die Stelle, an der man sich befindet.

Anfängerstrategie für Schneeschuhgänger

Diese Strategien sind primär für Skitourengänger entwickelt worden, deren Abfahrtsgenuß im gewissen Maße von der Steilheit abhängt. Sie sollen das Verhältnis von Handlungsspielraum und Risiko optimieren. Bedingungen, die besonders lawinengefährlich (z.B. große Neuschneemengen, extrem steile Hänge) sind für Schneeschuhgänger und Winterwanderer nicht besonders attraktiv. Selbst mit Schneeschuhen ist die Fortbewegung im knietiefen lockeren Neuschnee und in Hängen über 35 Grad sehr mühsam.
Als Schneeschuhgänger kann man daher deutlich unter diesen Grenzen bleiben, auf besonders gefährdetes Gelände leicht verzichten, ohne daß der Tourengenuß darunter leidet, bzw. im besonders sicheren Gelände bleiben, das für Skitourengänger unattraktiv ist (mäßig steiles Gelände, dichter Wald, freigeblasene Rücken mit geringer Schneeauflage).
Mit Anfänger meine ich einen Anfänger im Wintertourenbereich, aber ansonsten einen Bergsteiger mit einer gewissen Erfahrung. Man braucht kein besonderes Gespür für Schnee. Vorausgesetzt ist jedoch der sicherer Umgang mit der topographischen Karte (für die selbständige Durchführung von Wintertouren unabdingbar) und die Bereitschaft, sich alle erforderlichen Informationen zu beschaffen und sich mit den elementaren Grundlagen der Gefahrenabschätzung vertraut zu machen. Das Konzept verschiedener Beurteilungslevel hat insbesondere Engler der AV-Snowcard berücksichtigt. Die hier vorgeschlagene Strategie entspricht im wesentlichen den Basislevel A1 und A2 bei Engler.

Alle Informationsquellen ausschöpfen

Der Anfänger sollte seine fehlende Erfahrung durch optimale Ausschöpfung aller erreichbaren Informationsquellen ausgleichen. In der Führerliteratur findet sich oft eine generelle Einstufung der einzelnen Touren nach der Gefährdung ergänzt durch Hinweise auf besondere Gefahrenstellen. Sehr differenziert ist das Bewertungssystem im Schneeschuhführer von Schneeweiß, das mit konkreten Handlungshinweisen verknüpft wird (möglich bis Gefahrenstufe x bei optimaler Geländeausnutzung und zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen). Diese klaren Aussagen sind grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings sollten Anfänger dieses System nicht ausreizen. Schon Stufe 3 bedeutet für den Tourengänger stets eine kritische Situation.
Ein paar Vorschläge für geeignete Einsteigertouren mit geringer Lawinengefährdung:

Sicheres Gelände erkennen

Besonders, wenn auch nicht absolut sicher ist: Diese Geländeformen kann man schon auf der Karte erkennen. Erforderlich ist eine gute topographische Karte (z.B. AV-KArte)  möglichst im Maßstab 1:25.000 mit Höhenlinien im 20m-Abstand.
Wald, auch dichter, bietet nur eingeschränkt Sicherheit. Lichter Wald, in dem sich bequem skifahren läßt, bietet kaum Sicherheit. Die naheliegende Annahme, daß die Baumstämme die Schneedecke stabilisieren und verankern, trifft nicht zu. Andererseits ist im dichten Wald der Schneedeckenaufbau günstiger, da ein Teil des Neuschnees zunächst in den Baumkronen hängen bleibt und erst langsam runterrieselt. Außerdem können im Wald nicht so leicht gefährliche Triebschneeansammlungen entstehen. Man sollte insoweit genau den LLB lesen. Zuweilen findet sich dort die Anmerkung, daß die angegebene Gefahrenstufe oberhalb der Waldgrenze gilt. Im Wald ist es dann relativ sicher.

Gefahrenstufe nach dem Lawinenlagebericht

Vor jeder Tour ist der aktuelle Lawinenlagebericht (LLB) für das Gebiet einzuholen (Im Internet: Bayern, Tirol). Für eine telefonische Abfrage die Nummer ins Handy programmieren, damit man noch während der Anreise oder von der Hütte die Lawinenlage abfragen kann. Neben der Gefahrenstufe gibt der Lagebericht umfangreiche Zusatzinformationen (Schneedeckenaufbau, besonders gefährdete Höhenlagen und  Hangexpositionen), die für die Tourenplanung äußerst wertvoll sind.
Um die in den Lageberichten verwendeten Gefahrenstufen richtig einzuordnen, sollte man die Europäische Lawinengefahrenskala studieren. Hilfreich sind dazu auch die Interpretationshinweise des SLF. Nach der Europäischen Gefahrenskala, die alle europäischen Lawinenwarndienste verwenden, unterscheidet man 5 Stufen, von geringer (1) bis sehr großer (5) Lawinengefahr.
Der LLB wird für ein relativ großes Gebiet ausgegeben, die lokalen Verhältnisse können davon abweichen. Die Treffsicherheit wird jedoch mit zunehmender Regionalisierung immer besser. Eine zu niedrige Gefahrenstufe findet man nur in rund 10 % der Fälle. Der Anfänger ist kaum in der Lage, eine lokale Anpassung der Gefahrenstufe vorzunehmen. Eine Absenkung der Gefahrenstufe sollte tabu sein. Erkennt man gefahrerhöhende Umstände (frischer Triebschnee), sollte man zur Sicherheit von höherer Gefahr ausgehen.

Strategie

Die Anfängerstrategie besteht aus möglichst einfachen Regeln, die im wesentlichen von der Gefahrenstufe ausgehen: Diese Strategie läßt sich dahingehend zusammenfassen: Bei Stufe 1 und 2 ziemlich freie Tourenwahl, allerdings sollte man extremes Steilgelände und die im LLB genannten Gefahrenzonen meiden. Stufe 1 und 2 werden während der Wintersaison etwa an 2/3 aller Tage ausgegeben. Es bleiben demnach viele Tourenmöglichkeiten. Möglichst nicht langfristig planen und dann bei schlechten Verhältnissen die geplante Tour durchziehen, sondern kurzfristig bei guten Verhältnissen aufbrechen. Stufe 3 ist für Tourengeher stets eine kritische Situation, diese Gefahrenstufe sollte nicht unterschätzt werden.
Es ist stets und immer sinnvoll, das Risiko zu minimieren. Das heißt, immer die Eigenschaften des Geländes bei der Spurwahl optimal ausnutzen (Rinnen und Mulden meiden, Grate und Rücken suchen). Im Steilgelände (ab 30 Grad) stets mit Abständen gehen. Ab Stufe 3 im sicheren Gelände bleiben (unter 30 Grad, Rücken und eingeschränkt dichter Wald).
Diese Strategie ist für sehr konservativ. Alle anerkannten Entscheidungsstrategien sind erheblich großzügiger, da sie aus Akzeptanzgründen insbesondere für Skitourengänger einen größeren Handlungsspielraum bieten wollen. Munters Reduktionsmethode erlaubt z.B. bei Stufe 3 das Begehen von bis zu 39 Grad steilen Hängen außerhalb des Nordsektors (bei Einhaltung von Abständen). Stop or Go und ERM ziehen bei Stufe 3 schon ein Limit bei 34 Grad in allen Expositionen.

Kurse

Windzeichen am Galtjoch [Zum Vergrößern anklicken]Man kann sich zwar einiges anlesen, aber insbesondere das Erkennen von konkreten Gefahrenzeichen (Windzeichen etc., siehe Bild) kann nur im Gelände geschult werden. Daher empfiehlt es sich, einen Lawinenkurs für Winterwanderer / Schneeschuhgänger z.B. bei einer DAV-Sektion machen. Die Sektionen München/Oberland haben erstmals im Winter 2000/2001 spezielle Kurse Lawinenkunde für Schneeschuhgänger angeboten. In einem Kurs lernt man auch die Handhabung der nötigen Ausrüstung (LVS-Gerät und Lawinensonde zur schnellen Auffindung von Verschütteten). Martin Engler, Bergführer und Erfinder der Snowcard, bietet ebenfalls Kurse an, die ich wärmstens empfehlen kann. Weitere Infos auf  AV-Snowcard.de.

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