Hermann
von Barth:
Ein Tag auf den Spitzen der Hinterautaler Kette.
Birkkar-, Ödkar-, Marxenkar- und Seekarspitze.
(ursprünglich in der Zeitschrift des Deutschen Alpenvereins 1870/71
veröffentlicht, abgdruckt in den Gesammelten Schriften des Freiherrn
Hermann von Barth, München, 1926, S. 764 ff.)
Ein Blick auf die Karte zeigt uns im Norden Innsbrucks - vom Laufe
des Inn von Zirl bis Jenbach im Süden begrenzt - einen durch seine
vielfache Gliederung sowohl als durch den regelmäßig parallelen
Verlauf seiner einzelnen Kämme ausgezeichneten Gebirgsstock richtiger
gesagt: eine Gebirgs-Gruppe, da eben hier die in den Nördlichen Kalkalpen
gewöhnliche Erhebung eines Zentrums mit radienartig verlaufenden Seiteuzweigen
einer völlig entgegengesetzten Bildung Platz macht. Ein anderer Blick
auf das an einem heiteren Tage sich entfaltende Panorama der Gebirgskette,
welche den Südrand des oberbayerischen Flachlandes begrenzt, weist
uns in dieser Gegend eine lange Reihe zum Teil seltsam geformter Zacken
und Hörner auf, von augenscheinlich so beträchtlicher Erhebung,
daß diese Gruppe in dem langen Gürtel der Nördlichen Kalkalpen
von den Ufern des Bodensees bis an die Enns einen hervorragenden Rang einnimmt.
Eine Fahrt endlich auf der Eisenbahn von Kufstein nach Innsbruck, eine
Fortsetzung der Reise zu Wagen oder als Fußwanderer nach Zirl, Seefeld
und Scharnitz gestattet einige wenige Einblicke ins innere Heiligtum dieses
abgeschiedenen, unbesuchten und seinem ganzen Charakter nach öden
Gebirgslandes, und nur der aller Empfänglichkeit für die Schönheiten
und großartigen Eindrücke der Gebirgsnatur entbehrende Gewohnheitsreisende
könnte auf dieser Strecke vorüberziehen, ohne mit einem fragenden
Staunen, mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Scheu zu den blendend weißen
Mauerzinnen aufzublicken, welche ihm, in gemessenen Pausen über dem
- in tiefgrünes Waldkleid gehüllten - Vorgebirge auftauchend,
erscheinen, in feierlicher Ruhe vor seinem Auge vorüberziehen, und
ihm entschwinden wie Angehörige einer dem menschlichen Treiben entrückten
Welt; - und auf die Frage des Wanderers nach dem Namen, nach dem Standorte
eines solchen stolzen Berghauptes wird ihm - wenn überhaupt eine Auskunft
- etwa die Antwort: ,,Einer im Gleirsch-, im Lafatschtale, im Vomper Loch"272
...
Wie mag es nun da drinnen, wie mag es im Herzen dieser Gebirgswüste
aussehen? Diese Frage mag sich wohl mancher Bergturist vorgelegt haben,
dessen Interesse am Gebirge und seinen eigentümlichen Schönheiten
über das Betrachten malerischer Gruppierungen und weitgreifender Aussichtsbilder
und deren baldiges Wiedervergessen hinausging, - schwerlich aber wird er
eine auch [S. 765] nur notdürftige Beantwortung derselben haben erhalten
können. Was mich anbelangt, so übte seit der ersten Anfangszeit
meiner bergsteigerischen Bestrebungen diese rätselhafte Gebirgsgruppe,
von welcher nur ein einzelnes Glied unter dem Gesamtnamen Karwendel bekannt
ist, einen besonderen Reiz, eine besondere Anziehung auf mich aus, und
nachdem ich mich in zwei aufeinanderfolgenden Sommern für genügend
geübt und gestählt erachten konnte, um einen Strauß mit
den wilden Gesellen zu wagen, auf deren Begegnung ich in dieser Gegend
sicher rechnen durfte, setzte ich am 31. Mai dieses Jahres273 Geschrieben
im September 1870. den ersten Fuß an das hinter Innsbruck aufsteigende
Berggehänge. Die Losung lautete: ,,Es werde Licht!" - und nun, nach
Vierteljahresfrist, darf ich mit befriedigtem Rückblicke auf meine
diesjährige Tätigkeit sagen, daß es mir heller Tag geworden.
Meine mannigfaltigen Erlebnisse und Erfahrungen in diesem Berggebiete
auch nur in gedrängtestem Auszuge zu schildern, würde einen mit
dem Umfange unserer Zeitschrift in keinem Verhältnis stehenden Raum
beanspruchen; ich greife daher eine einzelne Bergwanderung aus der Fülle
des vor mir angehäuften Materials heraus, gleichsam als eine Probe
dieses unbekannten Hochgebirges, als eine ebenso verdiente wie verspätete
Vertretung in den Blättern unseres Alpenvereines - oder alpiner Mitteilungen
überhaupt.
Am 27. Juni war ich auf dem bekannten Wege über das Plumser Joch
in die Hintere Riß gewandert, woselbst die für dieses Standquartier
projektierten Gipfelbesteigungen mich 7 Tage festhielten. Am 4. und 5.
Juli wurden die Spitzen der östlichen Hälfte der Karwendelkette
(bis zur Bärnalpel-Scharte) besucht274. Der Abend des 5. zeigte sich
so außerordentlich klar und bot so zweifellos günstige Witterungsaussichten,
daß ich den geeigneten Zeitpunkt zur Ersteigung der dominierenden
Zentralerhebung meines heurigen Bergreviers für gekommen erachtete
und demzufolge für den nächsten Tag die Tur auf den Birkkarspitz
und Ödkarspitz sowie die Fortsetzung derselben womöglich noch
bis auf den Seekarspitz mit dem Abstiege durch das Marxenkar ins Karwendeltal
ansetzte.
Die genannten Spitzen gehören in ihrer ost-westlichen Reihenfolge
der großen Zentralkette der durch Inn, Riß und Isar begrenzten
Kalkalpen-Gruppe an, welche in ununterbrochenem, mauerartigen Zusammenschlusse
vom Nieder-nissel, dem Beherrscher des Inntales bei Schwaz211, bis zur
Pleißenspitze bei Scharnitz sich erstreckt, durch einen vom Grubenkarspitz
sich loslösenden (an seinem Ausgange im Viertelsbogen gekrümmten,
dann der Hauptkette parallel gerichteten) Seitenast vom Hinterautale das
Lafatschtal abschneidet, durch die niedrige Einsattelung des Haller Angers
mit der nördlichen Begrenzungskette des Halltales zusammenhängt.
[Birkkarspitze
und Ödkarspitzen von der Vogelkarspitze
gesehen] Zwei mächtige Nebenkämme gehen, der eine vom Birkkarspitz
gegen Norden, der andere vom Ödkarspitz gegen Süden aus. Ersterer
umspannt - gegen Nordwesten ausbiegend das in gleicher Richtung aufgeschlossene
Schlauch[en]-kar (von diesem hat der Birkkarspitz im Karwendeltale und
in der Riß den Namen ,,Schlauchenkarspitz"); der schroffe Abbruch
seiner Ostseite, die wenig abgestumpfte Spitze seiner aus dem Grate des
Hauptkammes aufgeschwungenen [S. 766] Pyramidengestalt beherrscht majestätisch
das flache Tal der Hochalpe, die weiten Talkessel des Ladizer Waldes, -
gleichwohl noch in Schatten gestellt durch den noch weit schlankeren Bau
der Kaltwasserkarspitze, welche man mit einem Turme und einer Nadel zugleich
vergleichen möchte, zu so schwindelnder Höhe strebt das freie
Felsenhorn himmelan, zu solch haarscharfer Spitze verläuft sein stolzer
Gipfel. Ganz im Gegensatze dazu schließt an den Birkkarspitz westlich
der Ödkarspitz als eine flachgezogene, dreifache Welle sich an; der
kugelrunde, östliche Seitenkopf desselben rivalisiert an Höhe
mit der breiten Mittelerhebung, welche ein trigonometrisches Signal trägt
(eines der wenigen, welche in dieser Gebirgsgruppe, namentlich in der oben
bezeichneten großen Zentralkette, sich vorfinden); die merklich herabgedrückte,
kleine Kuppe des Westendes dacht in schnurgerader Linie auf die Fortsetzung
des Grates über dem Marxenkar und dem Seekarspitze zu ab. Vom Mittelpunkte
des Bergrückens, fast genau unter der Vermessungspyramide, löst
sich der lange Seitenzweig los, welcher - das Birkkar vom Ödkar scheidend
- den Fuß seines breiten, plattenreichen Südabhanges ins Hinterautal
stellt. Sein Kamm trägt mehrere Felserhebungen, welche der Hauptkette
zu an Höhe um ein geringes zunehmen; auf welche derselben der hierhergehörige
Namen "Birkkopf" paßt, konnte ich nicht mit Bestimmtheit feststellen,
da allem Anscheine nach die im Gebirge Einheimischen sich hierüber
ebensowenig klar sind, als die Zeichner der Karten275.
Vom Ödkarspitze weg beginnt der in der westlichen Hälfte
der Hinterautaler Kette vorherrschende Charakter sich geltend zu machen,
wonach jeder Gipfelpunkt des Hauptgrates nach Norden sowohl als nach Süden
einen längeren oder kürzeren Seitenzweig entsendet. So springen
von dem ebenfalls wellenförmigen, auf den Ödkarspitz folgenden
(bisher namenlosen) Gipfel zwei Felskämme aus, von welchen der nördliche
ins Marxenkar vortritt und - ohne die Talsohle des Karwendelbaches zu berühren
- in ersteres abfällt, der südliche das kleine Ödkarl vom
großen Ödkarl scheidet und ebenfalls in der Sohle dieser Hochmulde
Fuß faßt. Da der bezeichnete Gipfel sowohl seiner relativen
Erhebung zufolge, als auch in seiner Eigenschaft als Knotenpunkt mehrerer
Kämme einen Namen wohl verdient, so habe ich denselben Marxenkarspitz
getauft, der in diesem ganzen Gebirge herrschenden Gewohnheit zufolge,
die Berggipfel nach den Bezeichnungen der um ihren Fuß gelagerten
Kare zu benennen.
Verfolgen wir unsere Gebirgskette noch einen Schritt gegen Westen weiter,
so treffen wir auf den Seekarspitz, eine spitze Pyramide von wahrhaft edler
Gestalt, deren Kanten, vier an der Zahl, sich mit Ausnahme der einzigen
südöstlichen (deren Rücken schartig und gekrümmt erscheint)
in vollendetster Regelmäßigkeit in leicht geschwungenen Linien
zum Gipfel vereinigen, deren Flanken - ebenfalls mit Ausnahme der südlichen
und eines kleinen Teiles der östlichen - die reinen, weißen
Schuttflächen zeigen, an welchen beinahe jeder Flecken, jede dunkle
Schattierung durchbrechender Felsrippen oder abstürzender Wandstufen
mangelt; daher dieser Berg - von Norden, Westen und Südwesten gesehen
- einen ebenso seltsamen als schönen Anblick darbietet. Topographisch
wichtig ist dieser Punkt der an ihm beginnenden Ausbuchtung des Hauptkammes
[S. 767] gegen Norden wegen, in welcher Richtung ihm ein niedrigerer, ostwärts
vorgeneigter Felskegel in nächster Nähe gegenübersteht.
Nach Vollendung des gegen Süden aufgeschlossenen Halbbogens setzt
die Kette ihre ursprüngliche westliche Richtung über die Breitgries-
und Große Riedlkarspitze nach ihrem Endpunkte, der Pleißenspitze
fort. Südwärts entsendet der Seekarspitz den langen (mit seinem
breiten bewaldeten Abfalle die Talsohle des Isarbaches erreichenden) Seitenzweig
des Spitzhüttenkopfes ein Name, welcher im Hinterautale wohl auch
dem Seekarspitz selbst gegeben, richtiger jedoch auf den zerhackten, ruinenartigen
Felsschrofen bezogen wird, welcher auf diesem Seitenkamme, dem Seekarspitz
zunächst, sich erhebt. Derselbe begrenzt das Kleine Ödkar
im Westen, das Breite Grieskar gegen Osten; die nördliche Ausbiegung
der Hauptkette und die von derselben ausgehende Seitenverzweigung schließt
die Westseite des Seekars, dann des Großen Marxenkars, welch letzteres
seinen östlichen Abschluß durch einen langen (vom westlichen
Eckpunkte des Ödkarspitz abzweigenden) Ast erhält. - Vorstehende
topographische Andeutungen mögen zu genauerer Orientierung über
die in Rede stehende Gebirgsgegend und den von mir in derselben eingeschlagenen
Weg genügen; ich mußte mich über diesen Punkt notgedrungen
etwas weitläufig verbreiten wegen der gänzlichen Unrichtigkeit
der vorhandenen Karten - richtiger gesagt: der österr. Generalstabskarte,
welche von sämtlichen übrigen kopiert wurde. Führe ich nur
beispielsweise an, daß der lange Seitenzweig an der Ostseite des
Birkkars nicht vom Birkkarspitz, sondern von der Kaltwasserkarspitze ausgeht,
- daß von den beiden Seitenästen des Ödkarspitz der nörd-liche
seinen Ausgangspunkt, statt östlich, westlich von dem des Birkkopf
(dem südlichen) hat, - daß der Seekarspitz an die Umbiegung
der Hauptkette gehört, - daß das gegen das Karwendeltal hinabgehende
Seekar nicht durch parallele, getrennte Ausläufer, sondern durch eine
Gabelung eines Seitenkammes entsteht und dadurch einen nördlichen
Aufschluß erhält, daß an gleicher Stelle zwar eine starke
Ausbiegung des Hauptkammes gegen Norden, keineswegs aber eine nördliche
Zurückdrängung seiner weiteren Fortsetzung statt-findet, - daß
der Spitzhüttenkopf vom Seekarspitz, nicht aber vom "Riedelkarspitz"
abzweigt und dessen Rücken mit dem des Birkkopf parallel streicht
(statt daß beide, wie auf der Karte verzeichnet, in auffälliger
Weise konvergieren), - daß endlich all diese Unrichtigkeiten in der
nächsten Nachbarschaft einer zu [S. 768] Vermessungsarbeiten eigens
erbauten, großen Triangulierungspyramide und in einem verhältnismäßig
leicht zu begehenden Teile des großen Bergreviers sich vorfinden
(während in anderen Gegenden desselben auf Luftdistanzen von Stun-denlänge
keine Spur einer Signalstange zu entdecken ist, die Berggipfel nur mit
Aufbietung aller dem Bergsteiger zu Gebote stehenden Ausdauer, Gewandt-heit
und mitunter sogar nur durch verwegenes Wagen erklommen werden können)
- so mag man hieraus ermessen, wie es mit den topographischen und turistischen
Kenntnissen in diesem weitverbreiteten Gebiete der Nördlichen Kalkalpen
bestellt ist.
Die riesigen Felsmauern, zu welchen die Nordseite der großen
Zentralkette sich zusammenschließt und welche nur an äußerst
wenigen Punkten ersteigbar sind, machen - vom Birkkarspitz angefangen -
einer mäßigeren Abdachung der Gebirgsmasse Platz, welche die
Bildung größerer, ausgebreiteterer Zweigkämme, die Entstehung
weiter Mulden und Kare gestattet, und im weiteren westlichen Verlaufe der
Kette die Besteigung fast einer jeden Scharte der Gebirgs-schneide auch
von der Nordseite - aus dem Karwendeltale - ermöglicht. So war mir
bereits in der hinteren Riß der Aufstieg durch das Schlauchkar als
der passendste Weg zum Besuche des Ödkarspitzes und seiner Nachbarn
bezeichnet worden und ergriff ich mit Vergnügen diese Gelegenheit,
zur Ersteigung einiger Gipfel der Hinterautaler Kette den sehr günstig
gelegenen Ausgangspunkt der Hochalpe zu benützen. Mit der Beschreibung
des in der Turistenwelt ohnehin ziemlich bekannten Weges - durch das Johannestal,
den Filzwald und auf den flachen Gebirgssattel, welcher die Karwendel-Kette
mit der Hinterautaler ver-bindet, das Johannes- und Karwendeltal voneinander
scheidet - brauche ich mich hier nicht länger aufzuhalten, da diese
Strecke ohnehin nicht zu meiner Bergbesteigung des 6. Juli gehört.
Ich kam vielmehr - wie bereits oben erwähnt - am 5. von den östlichen
Gipfelpunkten der Karwendel-Kette - dem Lackenkarspitze und dem Kuhkopf
- herab auf den Niederleger der Hochalpe (die im Frühsommer bezogene
Hütte) und wurde durch die plötzlich eingetretene, ungemein günstige
Witterung zum sofortigen Besuche der bedeutendsten und voraussichtlich
lohnendsten Gipfelpunkte meiner Gruppe veranlaßt. Um des anderen
Tages möglichst früh den Zielpunkt meiner Bergbesteigungen zu
erreichen, entschloß ich mich, auf dem zu dieser Zeit noch nicht
bezogenen Hochleger - der oberen Hütte der Hochalpe - zu übernachten,
da ich auf eingezogene Erkundigung die Auskunft erhalten hatte, es sei
auf dem Stallboden genügendes Heu zum Nachtlager vorhanden.
Die Sonne war bereits untergegangen, als ich nach dreiviertelstündigem
Wege von Niederleger her die Paßhöhe gegen das Karwendeltal
hinab erreichte. Der goldene Schimmer eines klaren Abendhimmels leuchtete
durch die Talöffnung herein, tiefblau wölbte sich das Firmament
über den bleichen Kalkzinnen der ,,Karwendelwand"276 [Fn: Unter Karwendelwand
versteht Barth hier die Östliche Karwendelspitze, vielleicht als Einheit
mit ihren Nachbarn, der Raffel- und Wörnerspitzen], düster umstanden
die gelben, brüchigen Felsmauern des Ödkarspitz die mit stundenlangen,
hellglänzenden Schneefeldern bedeckte Mulde des Schlauchkars, in welches
sich hier durch das Zurücktreten des vom Birkkarspitz abzweigenden
Kamuies der [S. 769] erste Einblick eröffnet. Bis zum Einbruche völliger
Dunkelheit blieb ich vor der etwa 1000 Schritte unterhalb der Paßhöhe
auf deren Westseite gelegenen Hochalpe im Freien sitzen; spät erst
vermochte ich mich von dem fesselnden Bilde der großartigen Felswildnis
und der darüber hingebreiteten feierlichen Ruhe zu trennen, um auch
für mich Ruhe und Stärkung zur Arbeit des kommenden Tages zu
suchen. Auf schwankender Leiter kletterte ich zum Heuboden empor, ver-grub
mich in einen großen Haufen aufgeschichteten Futtervorrats und erwartete
in gesundem, wenn auch öfters unterbrochenem Schlafe den Morgen.
Kaum zeichneten sich die Ritzen des ziemlich luftigen Hüttendaches
in merklicher Helle aus dem im Innern des Gebäudes herrschenden Dunkel
ab, tappte ich über die Leiter in den Stall herunter und trat aus
der Hütte ins Freie. Wie der vergangene Abend erwarten ließ,
war ein herrlich klarer Tag über den Spitzen des Sonnjochs, der Lamsenspitze
und ihrer Nachbarn im Stallen- und Vompertal heraufgezogen. Die Sonne war
noch nicht aufgegangen, doch mehrte sich mit jedem Augenblicke die Tageshelle
und lichter Glanz umsäumte den östlichen Horizont; es war 1/2
4 Uhr morgens.
Die Einnahme eines Frühstücks auf die erste Haltstation,
den Gipfel des Birkkarspitzes, versparend, schulterte ich den schwerbepackten
Bergsack und setzte mich unverzüglich in Marsch. Vom gewöhnlichen,
ins Karwendeltal hinausführenden Steige sogleich links abbiegend,
verfolgte ich einen schmalen, im Schatten der schroffen Wandstufen und
der dunklen Krummholzgebüsche mitunter noch kaum sichtbaren Pfad,
welcher - anfangs schon sinkend - in das enge Seitental sich hineinwandte.
Zu meiner Rechten erscholl das dumpfe Brausen des in tiefer Felsschlucht
hinunterstürzenden Schlauchkarbaches, der mächtigsten der mehrfachen
Wasseradern, deren Zusammenfluß in der Tiefe des Tales den Karwendelbach
bildet. Über krummholzbehangene Felshügel schlängelte der
Steig von Terrasse zu Terrasse sich empor. Nach einer halben Stunde war
ein kleiner, offener Wiesenplatz erreicht, über welchen der Bach frei
hinwegrauscht, von dessen Rande die wellenförmigen, den Taleinschnitt
seiner vollen Breite nach durchsetzenden Querriegel zu immer wachsender
Höhe sich aufein-andertürmten. Finster blickten von der linken
Seite, in tiefe Schatten gehüllt, die klüftigen Wände des
Umfassungszweiges auf den grünen Boden herunter, reiner Glanz strahlte
von dem Schneegewande des weiten kesselförmigen Talabschlusses aus,
in grellem Lichte der Morgensonne zeichneten die gelben, zu schwindelnder
Höhe aufstrebenden Klippen des Ödkarspitzes ihre scharfgeschnit-tenen
Höhenränder vom klaren blauen Himmel ab; dazu kein Laut in dem
ganzen weiten Umkreise, kein Zwitschern eines Vogels, kein Summen eines
Insektes - nur oben an den Schutthalden klapperten abspringende Steine
und verrieten die eilige Flucht einiger Gemsen, welche der ungewohnte Besuch
in ihrer Morgenäsung gestört hatte.
Links gewendet stieg ich nun an den Terrassenbau des Talbodens von
Stufe zu Stufe weiter hinan, anfangs noch den Spuren des Fußpfades
folgend, nach dessen Verschwinden auf den begrasten, nur mehr mit einzelnen
Krummholzbüschen besetzten Hügeln lediglich an die gerade Richtung
mich haltend. Noch- [S. 770] mals wurde ein kleiner, ebener Kessel durchschritten;
steile Schutthänge bildeten seine Umrandung, an ihnen war die schräg
hinlaufende Linie eines schmalen Steiges zu erkennen, welcher das Erreichen
der nächsten Höhenstufe ohne viel Mühe und Anstrengung gestattete.
Hier verbreiterte die bis dahin eng geschlossene Talsohle sich zu einer
ausgedehnten, aus leicht aufgeworfenen Felshügeln zusammengesetzten
Fläche, aus welcher beiderseits die Geröllmassen in grauweißeu,
eintönigen Feldern und Schuttkegeln von beträchtlicher Neigung
an die gelben, schwarz gestriemten Wände sich hinaufstreckten, deren
wilde Zerklüftung über die Herkunft dieser losen Berglehnen,
an welchen jeder Fußtritt eine ganze Wagenladung Schotters in Bewegung
zu setzen vermag, genügenden Aufschluß erteilte. Der Einblick
in die innerste und höchste Mulde des Kars, bis zu dessen Ende an
der Grathöhe, auf dem Sattel zwischen Birkkar- und Ödkarspitz,
war mir hier vollkommen geöffnet. Ich konnte mich in eine Gletschergegend,
in die Firnmeere der Tauern oder Ötztaler Ferner versetzt wähnen,
denn der ganze - wohl noch auf zwei Stunden zu veranschlagende Weg bis
auf den Gebirgskamm war über Schnee zurückzulegen, dessen glänzender
Mantel den mit steigender Höhe fortwährend an Breite zunehmenden
Bergkessel völlig bedeckte, an vielen Punkten von den schwärzlichen
Stufen steiler Wandabsätze durchzogen oder von den Zacken kleiner
Felsriffe durchstochen.
Dem weißen Felde entstiegen - seinen Rand bis zur Kammhöhe
begleitend die lehmgelben Bruchwände des Ödkarspitzes; wenige
unbedeutende Schrofen starrten aus dem Schneekamme des Sattels hervor,
links von diesem erhob sich in mauerartig steilem Aufbaue die schwarzüberronnene
Nordseite des Birkkarspitzes, der seine geschwungene Pyramidengestalt bis
hierher unverändert bewahrt hatte, wenn auch deren scheinbare Höhe
bei größerer Annäherung allmählich herabgedrückt
wurde.
Das Schneefeld des Kars zeigte sich - in der Mitte ungefähr seiner
Länge und Höhe von einer Aufeinanderfolge größerer
Steilabfälle unterbrochen und wurde dadurch in zwei Arme geteilt,
von welchem der rechtseitige (hart an den Fuß der Wände des
Ödkarspitzes sich schmiegend) im Bogen den tieferen Talmulden zufloß,
seinen Zusammenhang mit den oberen Fimlehnen aber nur durch schmale, steile,
mit abgebrochenen Schneemassen angefüllte Felsrinnen unterhielt, während
der andere Arm eine bequeme Erreichung der Schrofen an ersteigbaren Stellen
und einen leichten Übergang auf die an den Birkkarspitz anstoßenden
Schneelehnen gestattete, auf welchen sodann in unverändert schräg
gegen rechts gehaltener Linie der Sattel auf der Grathöhe zu gewinnen
war.
Nach wenigen Schritten über felsigen, noch mit schwachen Rasenpäckchen
besetzten Boden betrat ich den Rand des Schneefeldes, welches hier - in
beträchtlicher Breite eine fast ebene Fläche bildend, allmählich
ansteigend - mit zunehmender Verengung gegen die Schrofen hinauf einen
ziemlich beträchtlichen Neigungswinkel annahm. Die eisige Härte
der Schneedecke gestattete ein rasches Ansteigen, und mehr im Interesse
eines bequemen und schnellen Vorwärts-kommens als aus gebotener Notwendigkeit,
legte ich nach kurzer Zeit die Steigeisen an, sobald der zunehmende Neigungswinkel
der glatten Fläche bei jedem [S. 771] Schritte den Fuß um ein
paar Zoll zurückgleiten ließ. Wohl an dreiviertel Stunden verbrauchte
ich zur Zurücklegung dieser langen, einförmigen Strecke, welche
ein Unerfahrener von ihrem untern Beginne aus auf kaum mehr als eine starke
Viertelstunde veranschlagen möchte. Endlich war der letzte, steile
Hang überwunden. Die hohlen, vom festen Felsboden abgeschmolzenen
Schneereste (in deren dunkelklaffenden Spalten die Schmelzwasser der höher
gelegenen Firnfelder - über die glatt gewaschenen Wandstufen herabplätschernd
- verschwanden) beiseite lassend, stieg ich, ohne auf eine Schwierigkeit
zu treffen, die brüchigen Schrofen hinan und hatte rasch eine zweite,
ebenfalls mit Schneemassen ange-füllte und umkleidete Mulde gewonnen,
deren Seitenhänge in gerader Richtung zur Höhe (unmittelbar an
den Fuß der Birkkarspitz-Pyramide) stießen, gegen links bis
an den Kamm ihres nordwestlichen Ausläufers hinanreichten, welcher
hier an seinem Ablösungspunkte vom Massive der Hauptkette - einen
langen, flach eingedrückten Sattel bildet. Derselbe könnte aus
dem Schlauchkar leicht erstiegen werden und würde den Einblick in
das von wild zerklüfteten Steilwänden umschlossene Kaltwasserkar
eröffnen.
In der Richtung, in welcher ich meinen Anstieg fortzusetzen hatte -
nämlich in schräger Linie unter dem Birkkarspitz hindurch der
Grathöhe zu - war das (im allgemeinen eine ununterbrochene gekrümmte
Fläche darstellende) Berggehänge von mehrfachen, sehr wenig erhobenen
Längenwellen durchzogen, welche gleichwohl genügten, den Einblick
in den unmittelbar an die Grathöhe stoßenden Kessel so lange
zu verwehren, bis der letzte dieser leicht aufgeworfenen Rücken überschritten
war. Es war mir diese Terrainbildung nicht unangenehm, da der volle Überblick
einer einförmigen, allmählich steiler sich hebenden Fläche
- deren Ende in fortwährend gleichbleibender Entfernung vor dem Wanderer
in dem Maße, als dieser vorwärts schreitet, zurückzuweichen
scheint - äußerst ermüdend und abspannend wirkt und die
auch dem berggeübtesten Auge kaum vermeidbare Unterschätzung
derartiger (namentlich schneebedeckter) Flächen die notwendig darauf
folgende Enttäuschung über die Länge des zurückzu-legenden
Weges eine physische wie moralische Erschlaffung nur befördert; wogegen
durch die kleinen Abteilungen des vor mir liegenden Terrains, welche die
ganze noch zu durchmessende Strecke nur stückweise dem Auge vorführte,
dieses den richtigen Maßstab an dieselbe zu legen von Anfang an genötigt
und sogar fortwährend eine gewisse gespannte Erwartung auf den nächsten
sich bietenden Anblick rege gehalten wurde, wenngleich ein endloses, nur
gelegentlich von einem Schuttplatze oder einer Reihe rauher Felsbrocken
unterbrochenes Schneefeld keiner besonderen Abwechslung fähig war.
Bald nach Erreichung dieser oberen Fimhänge hatten mich die ersten
Sonnenstrahlen begrüßt, je höher ich stieg, um so länger
hatte deren Wärme bereits auf der begangenen Schneefläche geweilt,
so daß dieselbe allgemach ziemlich erweicht sich zeigte, ein Umstand,
welcher mir hier sehr willkommen war, da die rasch und beträchtlich
gesteigerte Steilheit der Lehnen bei hartgefrorener Decke ein langwieriges
und mühsames Stufentreten erfordert hätte. Ich befand mich, wie
ich leicht beurteilen konnte, genau an der Grenze des [S. 772] Neigungswinkels,
welcher unter günstigen Verhältnissen der Schnee- oder Firnflächen
einen sicheren Tritt durch bloßes, kräftiges Einstoßen
des Fußes ermög-licht; ich maß diesen Neigungswinkel zu
35 Grad. Er blieb der gleiche fast an der ganzen Lehne des weiten Bergkessels,
welche ich bis zur Höhe der Gratschneide schräg überquerte,
und steigerte sich nur in unmittelbarer Nähe des Birkkarspitzes. Um
den Fuß seiner dunkelgefärbten Wände (welche jetzt zu einer
aus ihrer weißen Umhüllung kaum kirchturmhoch emporragenden
Mauerkrone zu-sammengeschrumpft waren) wandte ich mich nun - nachdem ich
die letzte kleine Schneewelle hinter mir gelassen - in einer halben Schraubenwindung
der nahen Kammhöhe zu. Fühlbar nahm der Fallwinkel der schlüpfrigen
Fläche zu; zwei-, dreimal schlug der zackengepanzerte Fuß in
die stäubende Decke, bis er die Last des ganzen Körpers auf sich
nehmen durfte. In kurzen Pausen des Atemholens wandte der Blick sich rückwärts
und - unbekümmert um die von den Fußsohlen weg jäh abschießende,
am Rande turmhoher Felswände auslaufende Firnlehne - schweifte er
hinaus gegen Norden, wo über den längst in die Tiefe gesunkenen
Spitzen der Karwendel-Kette die wohlbekannte Gestalt der Benediktenwand
emporstieg und zwischen all den schroffen Zacken der Riß und dem
grünen bayerischen Vorgebirge ferne Striche des flachen Landes vom
klaren Blau des Morgenhimmels sich abzeichneten.
Doch rasch wieder losgerissen von dem entzückenden Anblick, ging
es weiter, emsig und behutsam die Stufen tretend, das Auge fest auf das
nahe Endziel der schwersten Arbeit dieses Tages geheftet. Und der letzte,
bereits auf dem Grate fußende Schrofen wurde umgangen, knietief brach
ich in den vor wenigen Tagen gefallenen Neuschnee ein, welcher die Spalte
zwischen seiner Felsmasse und dem alten Firne ausfüllte; aber nur
noch wenige Tritte, und die Spitzen der Gleirscher Kette tauchten über
der Schneide auf, welche ich im nächsten Augenblicke betrat und damit
zum ersten Male ins Hinterautal hinabsah. Vor mir lag das weit geöffnete
Birkkar, terrassenförmig tieften seine Schutthalden, durch mächtige,
steil abbrechende Felsgürtel voneinander getrennt, zu meinen Füßen
sich ab; durch den engen Aufschluß der Talschlucht drang das Auge
auf ein kleines Stück düsteren Waldgrundes, durchzogen von dem
weißen Kiesbette der jungen Isar; schroff erhob sich die jenseitige
Talwandung, auf breiten Rücken eine lange Reihe wald- und wiesenbedeckter
Hügelwellen tragend, himmelhoch überragt von den geschlossenen,
prallen Mauern des Gleirschtaler Gebirges. Zu meiner Rechten stand der
Ödkarspitz, ein Janus-Gesicht weisend: nordwärts die schrofigen,
zerborstenen Wände von säulenartigem Zusammenbau und gelb-weißlicher
Färbung, südwärts mäßig geneigte, silbergraue
Schuttfelder, gürtelartig gezeichnet von den schwarzen, vom Schneewasser
überrieselten Steilabfällen der plattigen Felsschichten.
[Gipfel
der Birkkarspitze von Westen, der Westgrat auf den Betrachter weisend]
Und
nun galt es den letzten Angriff an die kahle, rissige Birkkarspitz-Pyramide,
deren westlicher Strebepfeiler zur Linken sich emporbaute. Nur wenige Schritte
vermochte ich mich auf der brüchigen Schneide zu halten, ein abgesprengter,
isoliert stehender Felsturm nötigte sehr bald zum Ausweichen in das
Geschröfe der südlichen Bergseite. Mit dem ersten Schritte, welchen
ich auf diesem Boden tat, war mir der Charakter der zentralen Ketten der
Riß-Isar- [S. 773] Gruppe (der mir bereits im Halltale unangenehm
entgegengetreten, beim Besuche der Nördlichen Karwendel-Kette wie
sogar bei schwierigen Besteigungen in den Seitentälern der Riß
fast wieder aus dem Gedächtnisse entschwunden war) in die Erinnerung
zurückgerufen worden: das schieferige, brüchige Gestein von klar
weißer und gelblicher Färbung, fast wie Kiesel anzusehen, der
splitterige Grieß, welcher in dünner Lage die dachziegelartig
übereinandergeschobenen Plattschichten bedeckte, die rundlich ausgebauchten
Schichtköpfe - eine Bodenbeschaffenheit, welche sogar unter den günstigsten
Neigungsverhältnissen die Bergbesteigungen in dieser Gegend stets
etwas schwierig macht und jeden Ungeübten unbedingt davon ausschließt.
So bot denn auch die (obwohl sehr mäßig ansteigende) Westkante
des Birkkarspitzes einige die volle Aufmerksam-keit des Bergwanderers in
Anspruch nehmende Momente, so namentlich die Umgehung des ersten die Gratschneide
versperrenden Felsbollwerkes auf schmalen schlüpfrigen Schuttbändern,
deren plattige Unterlage den scharfen Zacken der Steigeisen nur ungern
einen sicheren Halt gewährte, - die Wiedergewinnung des Kammes über
steile, mit wenigen und überdies meist losen Vorsprüngen besetzte
Wandstufen. Der Grat selbst war jenseits des Turmes wieder gut gangbar,
und als dessen stärkere Erhebung gegen die Spitze zu abermals zu seitlichem
Ausweichen nötigte, hatte die Neigung des ganzen Berghanges merklich
abgenommen, wie dies regelmäßig in unmittelbarer Nähe der
Gipfel und Hanptkämme zu geschehen pflegt. Die aus größerer
Entfernung etwas bedenklich erscheinenden Felsstufen waren leicht zu erklettern,
mit einem kurzen Quergange war der süd-liche, ins Birkkar vortretende
Ast der Spitze erreicht. Über riesige, wirr durch-einandergeworfene
Steintrümmer emporsteigend, mit einigen raschen Sätzen über
die Spalten und Risse des Kammes war der Gipfel gewonnen. Ein heller Jauchzer
verkündete den Tälern der Riß, des Karwendelbaches und
der Isar, verkündete dem weiten Umkreise der aus ihnen aufstrebenden
Felsspitzen, daß ein menschlichesWesen auf dem ehrwürdigen Haupte
ihres Beherrschers weilte.
Es war noch nicht 7 Uhr morgens; kein Wölkchen, kein Nebelstreif
trübte das klare Blau des unendlichen Gesichtskreises; es war die
ausgedehnteste, reinste Fernsicht, welche mir im ganzen Sommer dieses Jahres
zuteil wurde. Vom Ankogel bei Gastein bis zu den Firngipfeln der Silvretta-Gruppe
säumte ein silberglänzender Spitzenkranz den südlichen Horizont;
deutlich waren die hervorragenden Gestalten des Großglockner und
Venediger zu erkennen, pracht-voll entfaltete die Zillertaler und Tuxer
Kette ihre zeltartig flachen, von einzelnen schwarzen Zähnen durchbrochenen
Schneegipfel, tiefe Einblicke öffneten sich in die Eisgefilde des
Stubai, in welchen das bewaffnete Auge sogar die blauen Gletscherbrüche
und Firnschründe zu erkennen vermochte, kühnaufstrebende Zinnen
zeigte die weit gegen Südwesten gerückte Ötztaler Gruppe;
über den geradlinigen Kämmen der das obere Inntal begleitenden
Vorgebirge blickten noch, wie kleine Wölkchen, weiße Zacken
hervor, ihrer Lage nach unzweifelhaft den Jamtaler Fernern angehörig.
Im Westen erhob sich das Munde-Mieminger Gebirge wie eine fortlaufende
Reihe schroffer, abgerundeter Felstürme, streckte das Wetterstein-Gebirge
seinen stolzen Hauptgipfel zu gewaltiger Höhe empor, [S. 774] in seinem
Inneren die weite Mulde des Schneeferners umschließend. Darüber
weg traf das Auge auf den Hörnerkranz der Lechalpen, zwischen welchen
noch manche (aus dem vergangenen Sommer mir wohlbekannte) Spitze des Allgäuer
Gebirges hindurchblickte. Sicherer als die letzteren gelang es mir an den
östlichen Grenzen des Gesichtskreises meine Freunde des vorvergangenen
Jahres wiederzuerkennen: die Hochgipfel des Berchtesgadener Landes, deren
hervorragendste Vertreter - Göll, Watzmann, Hochkalter, das Breithorn
und die Schönfeldspitze des Steinernen Meeres - in voller Schärfe
und Klarheit vom blauen Himmelsrande sich abhoben; ihre Reihe schloß
ein massiger, isoliert aufsteigender Block, dessen breiter Scheitel in
silberner Schneedecke glänzte - die Übergossene Alpe bei Bischofshofen.
Und noch viel ferner gerückte Bergketten zeigten sich im Südosten;
sie mochten wohl dem Steierer Lande angehören.
Nordwärts breitete sich in unabsehbarer Fläche das bayerische
Oberland aus, mit tausend weißen Flecken wie übersäet,
mit den klaren Spiegeln des Ammer- -und Stamberger Sees, an den Grenzen
seiner Sichtbarkeit mit dem duftigen Blau des Luftkreises zusammenfließend.
Und mitten in der weiten, sonnenbeglänzten Ebene entdeckte das Fernrohr
die grauen Türme, das zusammengedrängte Häusermeer des heimatlichen
München und schweifte in kurzen Schwankungen über die angrenzenden
Fluren, von welchen es so oft mit sehnender Begierde auf diese weißglänzenden,
den Felskamm der Benediktenwand krönenden Zinnen gerichtet worden
war, welche nun eine um die andere ihre stolzen Häupter ihrem Überwinder
beugen mußten, deren jede einen Schatz neuer Erfahrungen brachte,
jede eine Fülle schöner Erinnerungen zurückließ. Und
zeugte mancher der finster blickenden Gesellen in meiner näheren Umgebung
von den bereits errungenen Erfolgen, durfte ich die Lamsenspitze, die übelberufene,
den mächtigen Felshöcker des Bettelwurfes als meine luftigen
Sitze wieder begrüßen, zeigte der Kleine Falk - der kühne,
unnahbare Beherrscher des Rißtales - den erst vor wenigen Tagen ihm
aufgesetzten Steinmann, so stellten manch andere Riesen des Hinterau-,
des Gleirschtales noch schwere Kämpfe gegen den vielleicht unbesiegbaren
Widerstand in Aussicht, und fragend ruhte das Auge auf dem schlanken Horne
der Kaltwasserkarspitze mit seinem auf nahezu Stundenlänge ins Hinterautal
vorgestreckten Grat, auf den runden, klotzartig aufgesetzten Gipfeln der
Sonnenspitzen, deren nördliche so imponierend den Talkessel von Ladiz
überschaut, auf den Felsklippen des Roßlochs und Grubenkars,
welche in einer einzigen lotrechten Wand von drei- bis viertausend Fuß
Höhe auf die Wiesenmatten der Laliderer Alpen hinabsetzen - und nach
mancherlei Erwägungen für und wider und vielfachen Zweifeln über
das endliche Gelingen wurden diese Betrachtungen mit dem Schlußergebnis:
,,Kommt Zeit, kommt Rat!" wieder abgebrochen und spekulierte das Fernglas
wieder an den schuttbedeckten Abhängen des Ödkar-, an dem noch
ziemlich weitgerückten Seekarspitze umher, deren Gipfel noch die Beute
des heutigen Tages zu werden bestimmt waren.
Nur allzu rasch verflog die Zeit, welche dem Genusse des herrlichen,
unermeßbaren Bildes im Tagesplane zugeteilt war. Nach Einnahme des
selbstbereiteten Frühstücks, bestehend ans schwarzem Kaffee,
welcher dem nüchternen [S. 775] Magen und durchkälteten Körper
äußerst wohltätig sich erwies, wurden mit Hilfe des Kompasses
und Klinometers einige Beobachtungen angestellt, zunächst die entschiedene
Überragung des eigenen Standpunktes über die Gipfel des Öd-kars
und damit die relative Richtigkeit der Pfaundler'schen Messungen konstatiert,
dann die Horizontalwinkel der nächstliegenden Höhenpunkte und
der trigonometrisch verzeichneten Spitzen im übrigen Bereiche der
Gebirgsgruppe bestimmt, endlich noch auf dem Gipfel selbst eine kleine
Umschau gehalten, dessen in öst-licher Richtung noch etwa vierzig
Schritte weit eben verlaufender Grat bis zu seinem scharfen Abbruche gegen
den Hochsattel am Fuße der Kaltwasserkarspitze verfolgt, ebenso der
südliche Seitenast bis zum Beginne seines steileren Abfalles ins Birkkar;
und nachdem ein letzter flüchtiger Blick auf den gewaltigen Felszirkus,
in die Tiefe des Hinterautales, des Kaltwasserkars, der grünen Matten
von Ladiz und Hochalp-Niederleger geworfen, am Fuße der auf dem Gipfel
errichteten Steinpyramide ein Stückchen rötlichen Kalkes als
Erinnerungszeichen aufgelesen worden war, erfolgte um 9 Uhr der Aufbruch.
Im losen Schutte einer steilen Rinne ging es rasch bergab, abbrechende
Stufen auf schmalen Tritten hinuntergeklettert oder mit vorgesetztem Bergstocke
und fest an die Felswand gestemmter Hand in einem wohlberechneten Schwunge
hinabgesetzt. Bald hatte ich die losen Geröllhänge hinter mir,
und nach vor-sichtiger Umgehung des schroffen, abgerissenen Felsturmes
war die Gebirgsschneide am Fuße der Birkkarspitz-Pyramide wieder
erreicht; der Abstieg hatte kaum zwanzig Minuten gewährt.
Schnellen Schrittes eilte ich über den langen, ebenen Grat, welcher
meist mit Schnee überdeckt war oder aus der weißen Umhüllung
hervorragende Felsblöcke und Schuttwälle zeigte; nur einige Stellen,
an welchen die aus den beiderseitigen Karen heraufreichenden Schneefelder
zu scharfen Firsten zusammenstießen, erforderten etwas größere
Behutsamkeit, um eine unfreiwillige Rutsch-fahrt zu vermeiden, welche namentlich
gegen das Schlauchkar hinab von schlim-men Folgen sein konnte. Bald türmten
sich die rauhen Schrofen wieder zu neuer Höhe vor mir auf, ich stand
am Fuße des Ödkarspitzes und hatte zunächst die östliche
Spitze seines langgestreckten Rückens, den kugelförmigen Felskopf,
zu erklimmen. Den Ruinen einer Riesentreppe gleichend, waren die mächtigen
Würfel und Blöcke übereinandergeschoben, manche davon halb
überkippt, andere ragten wie kleine Altane über die Seitenkanten
hinaus, hier durchriß ein klaftertiefer Querspalt den ganzen Kamm,
dort zog sich kaminartig eine Kluft zwischen steilen Mauern empor; die
ganze wirre Masse war mit losem Felsgesplitter beschüttet, kopfgroße
Trümmer des morschen Gesteins lösten sich bei bloßer Berührung
ab und polterten in gewaltigen Sätzen die schroffen Wände hinunter,
lange Furchen in die Schneelehnen des Schlauchkars zeichnend. Trotz dieser
ungünstigen Beschaffenheit des Felsbodens war bei mäßigem
Neigungs-winkel und meist hinlänglicher Breite des Kammes die Ersteigung
nichts weniger als schwierig und machte die maßlose Verwitterung
und Haltlosigkeit des Ge-steins einen nahezu komischen Eindruck; nur ein
paarmal nötigten steile Absätze des Grates zum Ausweichen an
die Nordseite des Gebirges, und hier - auf fuß- [S. 776] breiten
Bruchflächen des Geschröfes über den riesigen Wänden
des Schlauchkars stehend - erheischte dieser unzuverlässige Felscharakter
wohl große Behutsam-keit und sorgfältige Prüfung jedes
Vorsprunges, welcher - für einen Augenblick wenigstens - die Last
des Körpers allein zu tragen hatte.
Bei der relativ geringen Höhe des Gipfelkegels war die ganze Kletterpartie
auch nur von kurzer Dauer, bald verlor sich die ausgeprägte Kammlinie
in die breite Schuttfläche der südlichen Gebirgsseite, die Steigung
wurde mäßiger, regelloser überdeckte den Boden ein verworrenes
Trümmerwerk, nach wenigen Minuten hatte ich kaum dreiviertel Stunden
nach Verlassen des Birkkarspitzes den östlichen Gipfel des Ödkarspitzes
erreicht.
Ich verweilte auf diesem (mit einer großen Steinpyramide bezeichneten)
Höhenpunkte nur so lauge, als die Beobachtung des horizontalen Verlaufes
der Hauptkette nach den beiden nächsten Nachbarspitzen sowie der relativen
Höhe meines augenblicklichen Standortes erheischte. Bezüglich
der letzteren machte ich die auffällige - durch eine spätere
Kontrollbeobachtung vollständig bestätigte - Wahrnehmung, daß
die mittlere, mit dem Vermessungssignale versehene Erhebung des Felsrückens
den östlichen Eckpunkt desselben überragte, daher die Pfaundler'sche
Messung sowohl als die Höhenangabe des Katasters, welche beide diesem
östlichen Gipfel den Vorrang zuweisen, sich als unrichtig herausstellten.
Alle Aussichtsbetrachtungen sowie eine längere Rast auf den Standpunkt
der Triangulierungspyramide versparend, setzte ich mich nach einer Viertelstunde
wieder in Marsch. Zunächst ging es über brüchige Felsstufen
den ziemlich steilen Westabfall des Kopfes hinunter, welcher auf die Scharte
des Grates mit einer 10 bis 12 Fuß hohen, fast überhängenden
Wandstufe absetzte, ein immerhin fatales Hindernis, wenn nicht eine enge
Spalte, dann ein schmales, treppenartig um die Felsecke sich windendes
Band (oder, richtiger gesagt, eine Reihenfolge kleiner Auswüchse des
Gesteins) einen gefahrlosen Abstieg ermöglichte, wie er künstlich
kaum besser angelegt werden könnte. In sehr sanfter Steigung zog sich
von hier aus der Grat - nordwärts mit scharf abgebrochenem Rande die
Tiefe des Schlauchkars überragend, gegen Süden zu den ausgedehnten
Mulden des Birkkars in blendend weißen Schutthängen verlaufend
- zum mittleren und Hauptpunkte empor, auf mürbem Gerölle nur
selten von einem Gürtel fester Felsmasse durchstrichen - die
letzte Strecke zum Vermessungssignale hinan, welches bald wieder über
dem Grate, nahe vor mir, auftauchte. Noch wenige Schritte den schroff abstürzenden
Rand entlang, dessen Vorsprünge wie vorgebaute Brüstungen über
die schwindelnde, senkrechte Tiefe sich hinaus-streckten, und der Ödkarspitz,
der zweithöchste Gipfel im Quellen-gebiete der Isar, war meinen bisherigen
Errungenschaften in dieser Gebirgsgruppe beigezählt.
Mit der Erreichung der mittleren Erhebung hatte ich zugleich den Seitenkamm
des Birkkopfes oder vielmehr (da dieser erst in größerer Tiefe
von der Masse der Hauptkette sich ablöst) dessen Grenzlinie überschritten,
wodurch mir der Einblick ins Große Ödkar geöffnet wurde:
eine eintönige, ungeheure Schuttwüste, [S. 777] welche ihren
Namen vollständig rechtfertigt. Die flache Welle, als welche der Scheiderücken
dieses Kars gegen das Birkkar aus der Südfläche des Ödkarrückens
sich ausscheidet, drängte sich bei weiterer Entfernung von der Zentralkette
bald zu einem scharfen Grate zusammen und treibt, dem Ödkarspitz gerade
gegenüber, einen massigen Felsturm empor, den bereits öfters
genannten Birk-kopf, dessen gelbgrau gefleckte Seitenwände in schroffer
Erhebung die Geröllmulden der weiten Kare beherrschen, welche seinen
Fuß umlagern. Das Auge vermag im Ödkar den hellschimmernden
Flächen des zerriebenen Gesteins bis weit hinab zu folgen, sieht die
Seitengehänge, die hügelige Sohle des breiten Talkessels sich
allmählich wieder mit einem grünen Vegetationskleide überziehen,
dringt an manchen Stellen sogar bis an die schwärzlichen Dickungen
der Legföhre ... aber wehe dem Unerfahrenen, welcher - hiedurch irregeleitet
- die so einladend vorgezeichnete Bahn ins Hinterautal hinab verfolgen
wollte: in riesigen Wänden von mehr als tausend Fuß Höhe
bricht das Kar auf die Talsohle der Isar hinunter, in rauschenden Katarakten
stürzen die in der Hochmulde gesammelten Gewässer über die
glatten Mauern oder donnern durch finstere Spalten, die sie im Laufe der
Jahrtausende in den eisenharten Felsbau sich gerissen. Kein Steig läßt
an diesem wildschroffen Gewände sich erspähen und ist das Große
Ödkar kaum auf einem anderen Wege als durch einen Anstieg im Birkkar
und aus letzterem durch eine Überquerung der obersten Schutthänge
des Ödkar-spitzes zu erreichen.
Es war 1/2 11 Uhr vormittags, als ich die Triangulierungspyramide des
Ödkarspitzes erreichte. Dieselbe befindet sich noch in ziemlich gutem
Zustande, wenngleich ein nicht unbeträchtlicher Teil ihres aus rohen
Felstrümmern aufgeführten Fundamentes gewichen ist und den Stützen
ihren Halt zu rauben droht; der ganze, etwa zwei Klafter hohe Bau ist auf
einem großen Vorsprunge des Bergrandes, hart am Absturze der nördlichen
Wände, errichtet.
Einen mächtigen Block, welcher unmittelbar über der Tiefe
des Schlauchkars thronte, wählte ich zum Sitze und spähte umher.
Die Fernsicht war noch völlig unbeschränkt geblieben; zwar hatten
sich im Luftraume mehrfache Gewölke zusammengeballt, welche jedoch
meist sehr hoch gingen, und nirgends sich an die Berggipfel anlegten. Die
günstige Lage des Gipfelpunktes, welchen ich einnahm - fast im Zentrum
der Gebirgsgruppe, deren Durchwanderung meine diesjährige Aufgabe
bildete - sowie der ungetrübte Ausblick, welcher mir an diesem Tage
geboten war, bestimmte mich zu einem Versuche, ein Konturenpanorama des
ganzen Umkreises dieser Gruppe zu entwerfen und durch Bestimmung des Horizontalwinkels
für sämtliche sichtbare Bergspitzen deren Individualität
wenigstens mit Sicherheit festzustellen, als erste und unerläßliche
Grund-lage einer noch gar nicht vorhandenen, gemeingültigen Nomenklatur.
Diese Arbeit nahm mich nahezu zwei Stunden in Anspruch, ließ mich
dafür in langsamer und geordneter Reihenfolge meine ganze nähere
Umgebung ins Auge fassen, und durfte ich die dadurch gewonnenen Einblicke
in die Gruppe des Riß-Isar-Gebirges wohl höher schätzen,
als das Umherschweifen am fernen Rande des Gesichts- [S. 778] kreises,
vom nebelumschwommenen bayerischen Flachlande bis zu den glänzenden,
mir unbekannten Eiszinnen der Tiroler Zentralalpen.
[Blick
von der Westlichen Ödkarspitze nach Westen: am linken Bildrand
die Große Seekarspitze,
rechts vom Sattel die Kleine Seekarspitze, dahinter die
Breitgriesskarspitze,
Große Riedlkarspitze, im Hintergrund das Wettersteingebirge
mit Leutascher und Zugspitzplatt, links davon die Mieminger Kette mit der
wuchtigen Hohen Munde.] Malerisch drängten sich die benachbarten
Spitzen des geradlinig westlichen Verlaufes der Hinterantaler Kette zu
einer Gruppe von kühnen Bergformen von abschreckender Kahlheit aneinander.
Über dem verästeten Felsgrate schwang sich die in weiße
Schneegewänder gehüllte Seekarspitze auf, zu ihren beiden Seiten
(gleichwie untergeordnete Trabanten) links die durchbrochene Mauer des
Spitzhüttenkopfes, rechts der geneigte Kegel, welcher, namenlos, etwa
am passendsten als Kleiner oder Vorderer Seekarspitz zu bezeichnen wäre;
hart an ihn schlossen sich die Breitgries- und Große Riedlkarspitze277,
und zwischen ihnen beiden ragte der mächtige Eckpfeiler des Hinterau-
und Karwendeltales empor, die sanft gegen Süden abgedachte, nordwärts
dagegen scharf abgeschnittene Pleißenspitze.
Noch verworrener gestaltete sich die aus den verwegensten Gebilden
der Isar-Gebirge zusammengesetzte Gruppe, welche dem ostwärts gerichteten
Blicke begegnete. Da herrschten die riesigen Felstürme der Hinterautaler
Kette und deren Fortsetzung, welche im stufenweisen Halbzirkus den schuttbedeckten
Kessel des Roßkars umspannt; da entfalteten die jüngstbetretenen
Gipfel, die östliche Erhebung des Ödkarspitzes und der pyramidische
Birkkarspitz, ihre düsteren, zerborstenen Felsmassen, da blickten
zur linken Seite des ersteren die Gebirge der Rißtäler hervor,
da lugte - hart an den Ödkarspitz angeschmiegt - das wohlbekannte
Sonnjoch
des Falzturntales als scharfer Schnabel, der Rauhe Knöll des Stallentales
als breiter Rücken herüber; da ließ der stufenförmige
südliche Abfall des Birkkarspitzes in unbegreiflichen Verschiebungen
Hochglück, Lamsenspitze und Hochnissel
des Vompertales, zu einem Klumpen aneinandergeschlossen die Zackenreihe
des Bockkars und Roßlochs erkennen, und in unmittelbarer Folge hatte
das phantastische Horn der Kaltwasserkarspitze seine Stellung genommen
und entwickelte hier die ganze Länge seines zerfressenen (zum Heißenkopfe
im Hinterautale entsendeten) Seitengrates, über welchem als fernere
Kulissen der Felskamm der Sonnenspitzen mit dem rundlichen Klotze der südlichen
Spitze, dann die scharf gezeichneten, blätterdünnen Rücken
der Hochkanzel und des Brandlspitzes in der Lafatscher Kette, endlich das
mächtige, von massiven Felsschultern getragene Haupt des Bettelwurfes
in immer schwächer ausgeprägten Umrissen und helleren Lichttönen
sich erhoben.
[Im
Bild (aufgenommen von der Seekarscharte)
ganz links der Bäralplkopf
(2323 m, das Bäralpl selbst ist verdeckt), dann nach rechts der Grat
über Schlichtenkarspitze
(2473 m) zur Vogelkarspitze
(2523 m), hinter dem tiefen Einschnitt des Vogelkars die Östliche
Karwendelspitze (2537 m) und Grabenkarspitze] Im Gegensatz zu diesen
wirr durcheinandergeschobenen Bildern, deren innerer Zusammenhang jedem
andern als dem völlig mit der Örtlichkeit Vertrauten ein unlösbares
Rätsel bleiben mußte, sahen sich die Parallelketten im Süden
sowohl als im Norden wie aufgerollte, klar gezeichnete Panoramen an: hier
die Begrenzungskette des Karwendeltales, ihre formlosen Erhebungen im südwestlich
abgebogenen, den Isarlauf von Mittenwald bis Scharnitz begleitenden Teile,
die bizarren Felsschnörkel des Karwendelkreuzes, die rissigen Pyramiden
des Wörner und Hochkarspitzes, der tiefe Durchbruch der Bärnalpelscharte
und die darauffolgenden höchsten Spitzen dieses Kammes, Karwendel-
und Grabenkarspitze; endlich die begrasten Gipfel nördlich der Hochalpe.
Dort, an die Bettelwurfspitzen anschließend, die Kolosse des Lafatscher-Jochs
und Bach- [S. 779] ofenkars, die Zyklopenmauer der Gleirschtaler Kette
mit den charakteristischen Gestalten der Praxmarer- und Jägerkarspitzen,
dem pyramidalen Katzenkopfe, dem gedehnten Rücken des Hohen Gleirsch;
und - die beiden letzteren bereits überragend - die westliche Hälfte
des Inntaler Gebirges, die gezackte Kette der Seegrubenspitzen, die Gabelzinne
des Hohen Brandjochs, die Glockengestalt der Hohen Warte, die stolzen Gipfel
der beiden Solsteine. Im Südwesten endlich schlossen den Reigen die
halbmondförmige, verästelte Seefelder Gruppe mit den bescheidenen,
aber wild zerklüfteten Dolomitzacken des Erl-, Kreuzjoch- und Reither-Spitzes.
Lange währte es, bis ich in meiner Rundschau wieder all deren
westlichen Ausgangspunkt, den Seekarspitz zurückgelangt war, bis sich
der ganze, weite Spitzenkranz in leidlich naturgetreuem Profile meinem
Notizbuche einverleibt hatte; mehr Zeit und Mühe noch kostete das
Visieren nach jedem einzelnen Gipfelpunkte, das Ablesen der Grade des Kompasses,
welchem ein starker Felswürfel als Stativ diente. Während meiner
Arbeit vernahm ich zu wiederholten Malen dumpfes Krachen und Gepolter unter
mir, herrührend vom Abbruche gewaltiger Steinlasten aus den morschen
Nordwänden des Ödkar-Gebirges, deren Gefüge nur durch den
Kitt einer gelben, lehmartigen Erdmasse zusammengehalten zu werden scheint,
welcher allerwärts die Ritzen des Geschröfes, den Boden der schmalen,
in diese Wände gezogenen Furchen und Kamine ausfüllt; einmal
konnte ich sogar eine derartige Steinlawine mit dem Auge wahrnehmen, die
tollen Sprünge der größeren Felstrümmer, den wasserfallartigen
Guß des zerbröckelten Schotters, der gelben Erdmasse über
die Steilwand hinab verfolgen, bis der entfesselte Strom - welcher glücklicherweise
in dieser Wüste nichts mehr zu verwüsten vorfand - die Schneelehnen
des Kars erreichte und - von diesen in seinem Laufe allmählich aufgehalten
- eine lange und breite, schmutzig-graugelbe Straße in die weiße
Decke zog.
Kurz nach 2 Uhr hatte ich meine Arbeit auf dem Gipfel beendet. Die
zerstreut umherliegenden Ausrüstungsgegenstände wurden zusammengelesen
und in den Bergsack verpackt, die Steigeisen wieder festgeschnallt, dem
Ödkarspitz Lebewohl gesagt. In raschen Sätzen ging's den schütteren
Westabhang des Gipfels hinunter, prasselnd zerstoben die mürben Felssplitter
unter den wuchtig dareinstoßendcn Eisenzinken. Noch eine kleine Strecke
stieg ich hinan: auch der westliche Eckpunkt, die dritte Wellenerhebung
des gedehnten Rückens mußte besucht werden, wurde aber ohne
jeglichen Aufenthalt sofort wieder verlassen - und wieder zertrat der bei
jedem Schritte stark vorwärts gleitende Fuß das knirschende
Gerölle, brach sich am quergehaltenen Bergstocke die Gewalt des Aufpralls
und fand an ihm der zurückgebeugte, bei unvermutetem Rutschen und
Abfahren des Fußes fast den Felsboden berührende Körper
eine sichere Stütze und verlässige Erhaltung seines Gleichgewichts.
In wenigen Minuten war der geradlinig flachgeneigte Westabfall der
Gipfelmasse mir im Rücken, vor mir streckte sich der Felsgrat zur
nächsten Kuppe hinüber, hinter welcher der Seekarspitz bereits
wieder verschwunden war. Die Schneide war bequem zu begehen; ihren geringen,
wellenförmigen Erhebungen [S. 780] wich ich auf den Schuttbändern
der Nordseite aus und ließ mich an dieser - in der Nähe des
Zwischengipfels angelangt - völlig ins Kar herab, welches eine Seitenbucht
des Marxenkars darstellt und sich in größerer Tiefe mit demselben
vereinigt.
Der nächst zu besteigende Gipfel, dessen Erhebung vom Hauptkamme
weg mir zu schroff erschien, wurde an seinem gegen Norden vorgestreckten
Seitenaste in Angriff genommen und von einem flachen Geröllsattel
des letzteren aus ohne Schwierigkeit erstiegen; ich glaubte denselben am
passendsten Marxenkarspitz benennen zu sollen.
Der Aufenthalt währte hier nur eine kleine Viertelstunde und wurde
zur Bestimmung des Horizontalverlaufes der Kette nach dem Ödkarspitze
einerseits, dem Seekarspitze andererseits, sowie der Streichrichtung des
nördlichen Ausläufers verwendet; die Entfernung bis zum Seekarspitze
erwies sich nun, da ich das ganze inzwischen liegende Kar überblicken
konnte, als noch sehr bedeutend, und mahnte zu rascher Fortsetzung des
Marsches, zudem die dichter sich ballenden Wolken ein Gewitter in ziemlich
sichere Aussicht stellten.
Ich verfolgte vom Marxenkarspitze ab wieder den Hauptgrat, welcher
in seiner westlichen Fortsetzung sich beträchtlich verschärfte,
und ins Ödkar sowohl als ins Marxenkar mit steilen, nur an wenigen
Stellen einen Abstieg gestattenden Wänden absetzte. Gleichzeitig veränderte
sich die Felsbeschaffenheit des Kammes völlig, der kleinbröckelige
Schutt wich großen, lose übereinanderliegenden Platten, welche
wie die Scherben tausender von Dachziegeln jede ebene Stelle des Bodens
bedeckten. Behutsam überschritt ich ein glattes, ge-neigtes Felsblatt,
welches - zum Glück nur auf wenige Schritte - den Scheitel des beiderseits
schroff abstürzenden Kammes einnahm, kletterte die rauhen Stufen des
westlichen Gipfelabhanges hinunter, arbeitete mich jenseits an schroffer
Zinne wieder empor und hielt mich noch fortwährend auf der immer schärfer
sich gestaltenden Gratschneide. Allmählich stiegen mir jedoch Bedenken
auf über die Möglichkeit eines Durchdringens auf dem schartigen
Felsrücken bis an den Fuß des Seekarspitzes, und da für
den Fall des Nichtgelingens ein so weiter und zeitraubender Rückweg
in Aussicht stand, daß eine Ersteigung dieses letzten Gipfelpunktes
am gleichen Tage kaum mehr zu hoffen war, wählte ich lieber sogleich
den - wenn auch weiteren, doch sicherer zum Ziele führenden - Weg:
nämlich den Abstieg in die höchstgelegene Mulde des Marxenkars.
In steiler Rinne, deren mächtige, in lose Geschiebe eingebettete Felsblöcke
bei jedem Fußtritte sich in Bewegung setzten, kletterte ich ein Stück
weit herab und wandte mich, sobald ich die rissigen Wände des Hauptkammes
über mir hatte, - an den scharf geneigten, ihren Fuß umkleidenden
Schneehalden quer durchsteigend - wieder in meine frühere Richtung.
Mühsam jeden Schritt tief ausstoßend, legte ich eine Strecke
von mehreren hundert Schritten an den jähen, schlüpfrigen Lehnen
zurück, durch vorspringende Felsecken noch mehrmals zu abwärts
greifenden Umgehungen genötigt. Endlich lag das letzte Schneefeld
hinter mir. Noch einen kleinen Schuttstreif überquerend (in dessen
Gerölle ich zu meiner Verwunderung Stücke des reinsten weißen
Alabasters bis zu Kopfgröße vorfand), [S. 781] betrat ich die
Plattenhügel des Felskessels, aus dessen Boden der Seekarspitz unmittelbar
seinen breiten Nordosthang erhob, welchen er mit seiner östlichen
und nördlichen Kante umschloß. Ich hatte vollkommen freie Wahl,
die schneebedeckte Breitseite oder eine der beiden Kanten auzusteigen,
entschied mich für den nördlich auslaufenden Kamm, und hielt
mich daher in gerader Richtung auf den Sattel zwischen dem angestrebten
Gipfel und dem bereits öfter erwähnten Felskegel, welcher - sofern
ich mich dazu veranlaßt sehen sollte - von diesem Sattel aus ebenfalls
leicht zu ersteigen war. Der ebene Boden des Kars war schnell überschritten,
die Geröllhänge seiner nördlichen Umrandung boten keinerlei
Schwierigkeiten, der Gratsattel wurde erreicht und öffnete den Einblick
in die Steinmulde des Breitgrieskars, in welches, mir gegenüber, die
Breitgrieskarspitze277 ihren Fuß mit mauerartig steilem Absturze
stellte. Jetzt erst gewahrte ich, daß auch der niedrige, auf meine
rechte Seite getretene Kegel im Hauptgrate lag, welcher - am Seekarspitz
im rechten Winkel gegen Norden umbiegend - einen weiten, gegen das Hinterautal
geöffneten Halbkreis beschreibt.
[Das
von der Breitgriesskarspitze aufgenommene Bild zeigt die Große Seekarspitze
rechts und die Kleine Seekarspitze linke. Über dem Sattel zwischen
beiden Gipfeln erkennt man die Kaltwasserkarspitze, über der Kleinen
Seekarspitze die Ödkarspitzen.] Nun links gewendet, ging's die
stark geneigte, schneeverwehte Kante zum letzten Ziele hinan, beschleunigten
Schrittes, denn drohender und düsterer zogen sich rings die Wolkenballen
um die Berggipfel zusammen, stechend trafen die durchbrechenden Sonnenstrahlen
die dürren, flimmernden Schuttwüsten, und über dem Gleirschtale
stand schon in geschlossener Wand die pechschwarze Gewitterwolke, unaufhaltsam
gegen mich heranrückend. Und trotz äußerster Anstrengung
wollte die ersehnte Spitze sich um keines Schrittes Länge nähern,
die steiler und immer steiler aufstrebende Schneide schien ins Unendliche
zu wachsen, dem Schneekamme folgte loses Getrümmer, flüssiger
Felsschutt, der eilende Fuß verlor jeden Augenblick den kaum gewonnenen
Halt, zentnerschwere Blöcke gerieten bei bloßer Berührung
ins Abgleiten und Überschlagen, eine schwere Folge gelockerten Trümmerwerkes
mit sich reißend, - der ganze Berg schien unter dem aufdringlichen
Besuche lebendig zu werden!
Endlich der letzte, wie ein schwerer Hut dem weißen Schneekleide
aufgestülpte Felskopf! Hier galt es kein langes Besinnen, wie er am
besten und bequemsten anzupacken: mit Händen und Füßen
wurden die brüchigen Mauern erklettert, unbekümmert um das Gekreische
und Gepolter der abgerissenen, abgetretenen Steinsplitter. . . . Jetzt
stand ich auf dem Gipfel, einem schmalen, ans zerborstenen, säulenartigen
Schrofen zugebauten Grate . . . halb fünf Uhr nachmittags.
Und mit gleicher Hast, wie die Ersteigung selbst, wurde das Einheimsen
der geernteten Resultate betrieben. Das Notizbuch, über dessen Blätter
bereits die Schneeriesel sprühten, nahm eine flüchtige Projektion
des Hauptkammes am Seekarspitze und dessen Verzweigungen auf: Scharfer
Absturz des Gipfels gegen Süden - flacher Gratsattel zwischen ihm
und dem mittendurch gespaltenen Spitzhüttenkopfe - Ausbiegung der
Hauptkette gegen Norden - Abzweigung vom Kleinen Seekarspitze (als wahrscheinliche
Begrenzung des Seekars) - Anschluß der Kette an die Breitgrieskarspitze
unter 56 1/2 Grad Ost278 . . . . also die fast nördliche Stellung
dieses nächsten Gipfels im Hauptkamme, wie [S. 782] sie die Generalstabskarte
verzeichnet, falsch. Eine Minute später waren Instrument, Notizbuch
und Karten wieder in ihre wasserdichten Umhüllungen verpackt279.
Jetzt erst blickte ich etwas weiter umher. Das Gewitter hatte sich
über das ganze Himmelsgewölbe verbreitet, zögerte jedoch
noch mit dem Ausbruche, stellte überhaupt keine sehr heftige und langandauernde
Entladung in Aussicht. Der anfängliche Rieselschauer hatte wieder
aufgehört, die erhabenen Felszinnen sich ihrer schwarzen Umhüllung
entledigt. Meinem Auge bot sich ein Farben- und Beleuchtungsbild von eigentümlicher
Schönheit und merkwürdig scharfen Kontrasten: Die aufgezogene
Wetterwolke - welche die ganze Umgebung weithin in ihre düsteren Schatten
hüllte, die umstehenden Riescnmauern mit ihren starren, wildgeformten
Gipfelkronen noch finsterer und abschreckender dareinblicken ließ
- hatte sich vom Rande des ganzen Gesichtskreises abgelöst und zeigte
die fernen Gebirgszüge und Landstriche im freundlich schimmernden
Sonnenlichte; in goldgelbem Brillantfeuer strahlten die Firnmeere des Zillertals,
von Hintertux und Stubai, weiß glänzten die Felsbauten des Wetterstein
und der Hochmunde, eine grelle meergrüne Beleuchtung goß sich
über die weite Fläche, die Wälder, Wiesen und Seen des bayerischen
Oberlandes. Aber dringender wurden jetzt die Mahnungen zum Aufbruche, brausend
fegte der Gewittersturm durch die Kare herauf, schwere Regentropfen begannen
zu fallen und feine Rieselkörner sprangen wieder kreuz und quer über
die zerbrochenen Platten des Gipfelgrates. Zwei-, dreimal zuckte ein fahler
Schein über die Hochalpe, vom Ödkarspitz zur Karwendelwand276
hinüber, in kurzen Zwischenpausen folgte ihm ein krachender Donner
mit weithin von Fels zu Fels verhallenden Schlägen.
Es war höchste Zeit, eine tiefere Region zu gewinnen, wollte ich
nicht auf meiner luftigen Warte in eigener Person den vortrefflichsten
Blitzableiter abgeben, und sehr wünschenswert, den Rückzug in
möglichster Beschleunigung auszuführen. Ich wandte mich daher
im Absteigen unmittelbar an die nordöst-liche Breitseite der Gipfelpyramide,
schwang mich eilends die schroffen Mauerstufen des Grates hinab, setzte
in raschen Sprüngen durch das lose Geschiebe hinab - abkollernde Blöcke
vor mir, hinter mir, zur Rechten und Linken - dem großen, stark geneigten
Schneefelde zu, welches mich per Eilpost in die nächste Tiefe befördern
sollte. Im Nu war dessen Rand erreicht. Etwas nieder-gekauert, die zackenbewaffneten
Absätze fest eingedrückt und mit Wucht auf den Bergstock gelehnt,
fuhr ich im Saus die schlüpfrige, zischende Bahn hinunter zum Geröllboden
der Mulde, deren weit aufgeschlossene Talsohle ich sodann im Laufschritt
abwärts verfolgte, während ein tüchtiger Platzregen auf
mich niederprasselte. Steile Schuttreißen, zwischen unbedeutenden
Wandabbrüchen des Talbodens eingeklemmt, brachten mich bald in tiefer
liegende Felskessel, zur Rechten trat die schwärzliche, gebrochene
Mauer, welche der Marxenkarspitz entsendet, zurück und gestattete
die Vereinigung der hochgelegenen Kare zur weiten, hügeligen Terrassenfläche,
von deren Rand die krummholzhehangenen Bergrippen - von turmhohen Steilwänden
durchsetzt, von tiefen Felschluchten und Gräben gefurcht - ins Karwendeltal
sich stürzen. An ihnen hatte ich zwei Tage vorher vom Vogelkarspitze
aus einen in langen Zickzackzügeu angelegten [S. 782] Steig wahrgenommen
- diesen mußte ich ausfindig machen, wollte ich diesen Abend noch
menschliche Wohnungen erreichen.
Zur Linken begleiteten meinen Weg zerrissene, gelbrot geflammte Mauern,
ihr gedrungener Bau endete mit einem gewaltigen, kühn aufstrebenden
Eck-pfeiler und jenseits drang der Blick zur lichten Höhe eines eng
geschlossenen Seitentales, wahrscheinlich des Seekars, welches durch eine
nördliche Abzweigung des Kleinen Seekarspitzes und einen Seitenarm
eines an der Auskrümmung des Hauptkammes abbiegenden Astes gebildet
wird. Vor mir senkte sich ein steiler Schutthang zu einer kreisrunden Grube,
deren Sohle ein kleiner Wassertümpel erfüllte, welcher augenscheinlich
dem Kar und dem dasselbe beherrschenden Spitze den Namen gegeben hat. Die
jenseitige Umrandung zeigte bereits übergrünten Hügelboden.
Nun galt es, den Pfad zu erspähen, von welchem bis dahin noch keine
Spur zu erblicken gewesen war. Aufmerksam meine ganze Umgebung musternd,
schritt ich Terrasse um Terrasse die grasbewachsenen Hänge hinab.
Schon war die Krummholzgrenze erreicht - und noch immer der Weg nicht gefunden!
Die unangenehme Aussicht, nach dem anstrengenden Tagemarsche im Freien
Nachtquartier beziehen zu müssen, gewann mehr und mehr an Wahr-scheinlichkeit
und ich durfte es für diesen Fall als ein Glück preisen, daß
das Gewitter ebenso rasch verflogen war, als es angerückt gekommen,
und der starke Regenguß keinen dichten Bergnebel mit im Gefolge hatte.
Endlich schwache Spuren von Tritten - eine schmale Fährte bog
nach der linken Seite durch die Büsche und querte als deutlich gezeichnetes
Band eine Geröllschütte - aber sie verfolgte ihre seitliche Richtung
über die Bergecke hinaus; es war wohl ein Verbindungssteig des Marxenkars
mit der nächstwestlichen Einbuchtung der Gebirgskette. Der Bergvorsprung
aber, auf welchen diese falsche Fährte mich hinausgeleitet hatte,
öffnete mir den vollen Überblick des Inneren der von mir begangenen
Mulde und zeigte mir weit drüben - fast schon an deren jenseitigem
Gehänge - den breitangelegten, sicheren Pfad, welchen ich nun frohen
Mutes zusteuerte, das langarmige Gewirre der Krummholzbüsche durchbrechend,
kleine Gräben und Rinnen übersetzend, bis ich an schroffer Felsstufe,
gerade über dem gebahnten Wege, anlangte, mich über dieselbe
- die zähen Latschenzweige fassend - hinabließ und den Fuß
seit dem Morgengrauen wieder zum ersten Male auf geebneten Boden setzte.
Nachlässigen Schrittes trabte ich nun den bequemen Pfad hinab,
welcher in weitgreifenden Windungen bald der rechten, bald der linken Talseite
sich nähert bald in kurzen Zickzacks steinige Graslehnen hinunterleitete,
bald enge Gräben und Felsspalten durchsetzte, endlich unter einer
turmhohen, überhängenden Wand hindurchlief (woselbst er mit höchst
anerkennenswerter Sorgfalt und Solidität durch Absprengung des Felsens
und Anbringung seitlicher Stützen künstlich angelegt ist), endlich
- im hohen, undurchdringlichen Krummholzdickichte sich hinabziehend - den
Trümmerschutt eines trockenen Bachbettes und - dasselbe noch eine
kurze Strecke begleitend - das Ufer des Karwendelbaches erreichte. Auf
dem übergelegten, schwankenden Stamme einer jungen Fichte überschritt
ich das rauschende, klargrüne Bergwasser; ein saftiger Wiesboden breitete
sich [S. 784] jenseits über die Talsohle bis an den Fuß der
düster bewaldeten Abhänge des Karwendel-Gebirges: Eine halbe
Viertelstunde später war ich an der Karwendel-[Anger-] Alpe, meinem
heutigen Zielpunkte, angelangt. Ich hatte zum Abstiege vom Seekarspitze
bis hieher, d.h. über ungefähr 5000 Fuß, nicht einmal volle
zwei Stunden gebraucht.
Meine Bitte um Nachtherberge und Verköstigung wurde, wenn auch
nicht eben zuvorkommend, aufgenommen, worauf man in der Scharnitzer und
Innsbrucker Gegend ohnehin nicht rechnen darf, doch auch nicht abgeschlagen,
und bald saß ich, ein mächtiges Butterbrot verzehrend, vor der
Türe der rauchigen Alphütte und ließ die Ereignisse und
Erfahrungen des vergangenen Tages im Geiste an mir vorüberziehen.
In den langgestreckten Gipfelwall der Hinterautaler Kette hatte derselbe
eine breite Bresche geschossen, fünf der erhabenen Spitzen, sämtlich
die Höhe vom 8000 Fuß beträchtlich übersteigend, waren
erklommen, ihre Bauart und Gliederungsverhältnisse aufs genaueste
erkannt worden. Jetzt vergoldeten die letzten Sonnenstrahlen des schönen,
aussichtsreichen Tages die schroffen Mauerzinnen, welche noch vor wenig
Stunden tief zu meinen Füßen gelegen, durch die beschatteten
Kare schlichen feuchte Nebelstreifen, Reste des längst vertobten Nachmittagsgewitters,
und behingen mit kupferig leuchtenden Mäntelchen die rauhen Felstürme,
an welchen sie emporschwebten. Und wenige Minuten noch, so war das letzte
Sonnenlicht erloschen und nächtliches Dämmern breitete sich über
das einsame Tal und seine erhabenen Wächter - und auch mir drückte
der Schlaf die Augen. Ein duftiger Heuschober nahm die ermüdeten Glieder
auf.
Birkkar-, Ödkar-, Seekarspitz gehörten dem reichen Schatze
der Erinnerungen an. . . . Morgen ein neuer Tag zu neuen Taten! . .