"Schon war die Krummholzgrenze erreicht - und noch immer der Weg nicht gefunden! Die unangenehme Aussicht, nach dem anstrengenden Tagemarsche im Freien Nachtquartier beziehen zu müssen, gewann mehr und mehr an Wahr-scheinlichkeit und ich durfte es für diesen Fall als ein Glück preisen, daß das Gewitter ebenso rasch verflogen war, als es angerückt gekommen, und der starke Regenguß keinen dichten Bergnebel mit im Gefolge hatte.
Endlich schwache Spuren von Tritten - eine schmale Fährte bog nach der linken Seite durch die Büsche und querte als deutlich gezeichnetes Band eine Geröllschütte - aber sie verfolgte ihre seitliche Richtung über die Bergecke hinaus; es war wohl ein Verbindungssteig des Marxenkars mit der nächstwestlichen Einbuchtung der Gebirgskette. Der Bergvorsprung aber, auf welchen diese falsche Fährte mich hinausgeleitet hatte, öffnete mir den vollen Überblick des Inneren der von mir begangenen Mulde und zeigte mir weit drüben - fast schon an deren jenseitigem Gehänge - den breitangelegten, sicheren Pfad, welchen ich nun frohen Mutes zusteuerte, das langarmige Gewirre der Krummholzbüsche durchbrechend, kleine Gräben und Rinnen übersetzend, bis ich an schroffer Felsstufe, gerade über dem gebahnten Wege, anlangte, mich über dieselbe - die zähen Latschenzweige fassend - hinabließ und den Fuß seit dem Morgengrauen wieder zum ersten Male auf geebneten Boden setzte.
Nachlässigen Schrittes trabte ich nun den bequemen Pfad hinab, welcher in weitgreifenden Windungen bald der rechten, bald der linken Talseite sich nähert bald in kurzen Zickzacks steinige Graslehnen hinunterleitete, bald enge Gräben und Felsspalten durchsetzte, endlich unter einer turmhohen, überhängenden Wand hindurchlief (woselbst er mit höchst anerkennenswerter Sorgfalt und Solidität durch Absprengung des Felsens und Anbringung seitlicher Stützen künstlich angelegt ist), endlich - im hohen, undurchdringlichen Krummholzdickichte sich hinabziehend - den Trümmerschutt eines trockenen Bachbettes und - dasselbe noch eine kurze Strecke begleitend - das Ufer des Karwendelbaches erreichte. Auf dem übergelegten, schwankenden Stamme einer jungen Fichte überschritt ich das rauschende, klargrüne Bergwasser; ein saftiger Wiesboden breitete sich jenseits über die Talsohle bis an den Fuß der düster bewaldeten Abhänge des Karwendel-Gebirges: Eine halbe Viertelstunde später war ich an der Karwendel-[Anger-] Alpe, meinem heutigen Zielpunkte, angelangt. Ich hatte zum Abstiege vom Seekarspitze bis hieher, d.h. über ungefähr 5000 Fuß, nicht einmal volle zwei Stunden gebraucht."aus Hermann von Barth: Ein Tag auf den Spitzen der Hinterautaler Kette (1870)
"Verfolgen wir unsere Gebirgskette noch einen Schritt gegen Westen weiter, so treffen wir auf den Seekarspitz, eine spitze Pyramide von wahrhaft edler Gestalt, deren Kanten, vier an der Zahl, sich mit Ausnahme der einzigen südöstlichen (deren Rücken schartig und gekrümmt erscheint) in vollendetster Regelmäßigkeit in leicht geschwungenen Linien zum Gipfel vereinigen, deren Flanken - ebenfalls mit Ausnahme der südlichen und eines kleinen Teiles der östlichen - die reinen, weißen Schuttflächen zeigen, an welchen beinahe jeder Flecken, jede dunkle Schattierung durchbrechender Felsrippen oder abstürzender Wandstufen mangelt; daher dieser Berg - von Norden, Westen und Südwesten gesehen - einen ebenso seltsamen als schönen Anblick darbietet."Die Große Seekarspitze ist eine ebenmäßige Pyramide mit steilen Schuttflanken, aus denen ein felsiger Gipfelaufbau nur knapp herausragt, sechsthöchster Karwendelgipfel, großes Gipfelkreuz, Gipfelbuch, Erstbesteigung H. v. Barth 14.8.1870. Das von der Breitgriesskarspitze aufgenommene Bild zeigt die Große Seekarspitze rechts und die Kleine Seekarspitze linke. Über dem Sattel zwischen beiden Gipfeln erkennt man die Kaltwasserkarspitze, über der Kleinen Seekarspitze die Ödkarspitzen.aus Hermann von Barth: Ein Tag auf den Spitzen der Hinterautaler Kette (1870)
"Nun links gewendet, ging's die stark geneigte, schneeverwehte Kante zum letzten Ziele hinan, beschleunigten Schrittes, denn drohender und düsterer zogen sich rings die Wolkenballen um die Berggipfel zusammen, stechend trafen die durchbrechenden Sonnenstrahlen die dürren, flimmernden Schuttwüsten, und über dem Gleirschtale stand schon in geschlossener Wand die pechschwarze Gewitterwolke, unaufhaltsam gegen mich heranrückend. Und trotz äußerster Anstrengung wollte die ersehnte Spitze sich um keines Schrittes Länge nähern, die steiler und immer steiler aufstrebende Schneide schien ins Unendliche zu wachsen, dem Schneekamme folgte loses Getrümmer, flüssiger Felsschutt, der eilende Fuß verlor jeden Augenblick den kaum gewonnenen Halt, zentnerschwere Blöcke gerieten bei bloßer Berührung ins Abgleiten und Überschlagen, eine schwere Folge gelockerten Trümmerwerkes mit sich reißend, - der ganze Berg schien unter dem aufdringlichen Besuche lebendig zu werden![20./21.9.2003]
Endlich der letzte, wie ein schwerer Hut dem weißen Schneekleide aufgestülpte Felskopf! Hier galt es kein langes Besinnen, wie er am besten und bequemsten anzupacken: mit Händen und Füßen wurden die brüchigen Mauern erklettert, unbekümmert um das Gekreische und Gepolter der abgerissenen, abgetretenen Steinsplitter. . . . Jetzt stand ich auf dem Gipfel, einem schmalen, aus zerborstenen, säulenartigen Schrofen zugebauten Grate . . ".Hermann von Barth: Ein Tag auf den Spitzen der Hinterautaler Kette (1870)